Bindseil und die Genossen

Bindseil und die Genossen

von Bernd Mai

Mein Name ist Bindseil, Bodo Bindseil, und ich bin Privatdetektiv. Das klingt aufregender als es ist. Vor allem aber ist es ein sehr unsicheres Geschäft. Ich habe vor wenigen Tagen einen Fall abgeschlossen, und ich habe noch keinen Neuen. Der Klient hat bezahlt, und das ist nicht selbstverständlich. Ich habe seinen Teilhaber der Unterschlagung überführt und meinen Klienten vor einem größeren finanziellen Verlust bewahrt. Ich habe nichts weiter zu tun, also bringe ich Ordnung in meine Buchhaltung. Ich habe mein Schlafzimmer zum Büro mit Bettstelle umfunktioniert, und ich muß darauf achten, daß das meinem Vermieter nicht zu Ohren kommt. Meine Klienten empfange ich im Wohnzimmer. Zunächst ordne ich die Post. Werbung, Werbung, Finanzamt, Werbung, Notar, Werbung … Notar? Ich öffne den Brief. Ein Notar Müller teilt mir mit, daß meine Großtante Mimmi Bindseil verstorben ist und mich zum Alleinerben eingesetzt hat.

Ich kann mich dunkel an Tante Mimmi erinnern. Sie war das Schwarze Schaf der Familie, denn sie soll ein lustiges Leben geführt haben. Sie war nie verheiratet, und sie hatte auch keine Kinder. So viel weiß ich. Von Künstlern war die Rede, wenn sich Onkel und Tanten bei meinen Eltern zu Familienfeiern trafen, von Schauspielern und Musikern. In einem kulturpolitischen Magazin, das es seit 20 Jahren nicht mehr gibt, wurde sie im Zusammenhang mit einem bedeutenden Vertreter der „Leipziger Schule“ erwähnt, und ich bin stolz darauf gewesen. Meine Mutter nahm mir das Magazin weg und schimpfte wie ein Rohrspatz. Mein Vater jedoch muß sie gemocht haben. Ich erinnere mich an einen gemeinsamen Besuch bei Tante Mimmi, als ich noch ein Junge war. Die Tante traktierte ihren Neffen mit kubanischem Rum und ihren Großneffen mit Vita-Cola und Westschokolade. Auf dem Heimweg grölte mein Vater Lieder von Wolf Biermann vor sich hin, und als wir nach Hause kamen, machte meine Mutter ihm eine Szene. Die Großtante hat sich also an den kleinen Bodo erinnert, und der große Bodo erbt überraschend achttausend Euro in Schmuck, Kunst und Bargeld sowie ein paar Genossenschaftsanteile. Bei aller Pietät, aber das kommt mir gerade recht.

Der Schmuck und die Bilder lassen sich gut zu Geld machen. Eins der Bilder und ein paar Grafiken behalte ich. Das Bild ist zwar nur eine kleinformatige Studie zu dem Bild „Schneewittchen“ von Wolfram Malheur, aber das fertige Bild war in der DDR ein großer Aufreger, und es ist heute unter Brüdern ein Vermögen wert. Für die Studie hat man mir siebentausend geboten, und der Ertrag des übrigen Verkaufs übersteigt die ursprüngliche Schätzung bei weitem. Und ich habe jetzt ein kleines Polster, für schlechte Zeiten, wie meine Mutter immer zu sagen pflegte. Jedenfalls weiß ich nun, daß das Tantchen einen erlesenen Geschmack gehabt hat. Nur die Sache mit den Genossenschaftsanteilen ist merkwürdig. Obwohl es Anteile der Wohnungsbaugenossenschaft „Konnex eG“ sind, lebte die Tante in einer gewöhnlichen Mietwohnung, und in ihren Unterlagen gibt es keinen Hinweis darauf, daß sie je eine Genossenschaftswohnung ihr Eigen genannt hatte. Der Einfachheit halber nehme ich die Sache selbst in die Hand.

Der Sitz der „Konnex eG“ liegt in der Senftenberger Straße, in unmittelbarer Nachbarschaft eines Parks, den man auf dem Gelände des ehemaligen Senftenberger Bahnhofs angelegt hat. Noch heute führt eine Straßenbrücke über Gleise, die es seit zwanzig Jahren nicht mehr gibt. Ich fahre auf den Betriebshof der Genossenschaft und finde einen Parkplatz. Ich steige aus und schaue mich um. Abgesehen von den Fahrzeugen auf dem geräumigen Hof scheint es, als wäre die Zeit stehen geblieben. Die Bauten stammen aus der späten Gründerzeit, kleine Anbauten aus den folgenden Jahrzehnten, die als Schuppen, Werkstätten oder Lagerräume dienen, machen den Hof verwinkelt und unübersichtlich. Rechts sehe ich einen Sozialbau aus den Sechzigern, links ein Gebäude, hinter dessen Fenster ich die Büros vermute. Neben der gegenüberliegenden Ausfahrt fällt mir ein flacher Empfangsbau auf, aber der stammt aus der Neuzeit. Ein paar Arbeiter entladen den Inhalt ihres Transporters in einen Sieben-Kubikmeter-Absetzcontainer, es stehen drei Stück zum Beladen bereit nebeneinander. Toilettenschüssel, Waschbecken, Badewanne, Möbelteile, alles alt und verschlissen, eine Wohnung wurde aufgelöst, die Reste eines Menschenlebens. Vor einem der Schuppen laden Handwerker Fußbodenbelag in ihr Fahrzeug, von einem LKW wird neue Sanitärkeramik abgeladen und mit einem Gabelstapler zu einem anderen Schuppen transportiert. Vor dem Eingang zum Bürogebäude hat sich ein Grüppchen von Menschen mit besorgten Gesichtern um einen kleinen Mann geschart. Er trägt einen gut sitzenden grauen Anzug zum blauen Sporthemd mit offenem Kragen, unter seinem linken Arm klemmt eine Aktenmappe und in der rechten Hand hält er eine brennende Tabakspfeife. Der Duft des Tabaks ist angenehm, wie ein gutes Eau de Toilette. Die Gestik seiner rechten Hand ist sparsam und präzise, während er mit leiser Stimme spricht. Alle anderen hören ihm aufmerksam zu. Ich kann ihn jedenfalls nicht verstehen, und ich stehe nur wenige Meter neben der Gruppe. Obwohl der Mann eher klein von Wuchs ist, läßt seine Präsenz keinen Zweifel darüber, wer hier der Chef ist. Ich marschiere zum Empfang hinüber und weiche dabei dem Gabelstapler aus.

Ich betrete den Empfangsraum. Hinter der Theke sitzt eine Frau meines Alters, sie telefoniert und lacht, also kein Dienstgespräch. An den Wänden stehen Rollcontainer, auf denen Werbebroschüren der Genossenschaft bereitliegen. Ich grüße und greife mir eine der Broschüren. Die Frau beendet ihr Gespräch und fragt mich nach meinem Begehr. Ich gebe ihr meine Visitenkarte, leider habe ich nur die dabei, auf der „Ermittlungen“ unter meinem Namen steht, und ich erkläre ihr mein Anliegen. Die Frau folgt zerstreut meinen Ausführungen, dann schweigt sie. Da wüßte sie nicht Bescheid, sagt sie endlich. Sie müßte sich erst einmal kundig machen, ich möge mich bitte setzen. Ich setze mich und blättere in der Broschüre. Wohnungen überall in der Stadt, aus allen Epochen, in jeder Größe, aber das Beste wären die Mitmieter und Hausgenossen. Na gut, denke ich, auch ein Argument. Die Frau telefoniert mehrmals erfolglos. Sie bittet mich mit einem Lächeln um Verständnis. Der kleine Mann mit der Tabakspfeife betritt den Raum. Die Empfangsdame beendet ihr Gespräch und springt von ihrem Stuhl auf. Der Kleine grüßt, ich grüße höflich zurück. Er erteilt der Empfangsdame ein paar Anweisungen, seine Stimme ist leise und angenehm, ohne Schärfe, seine randlose Brille blitzt im Schein der Schreibtischlampe. Als er gehen will, beginnt sie auf ihn einzuflüstern. Sie gibt ihm meine Karte, und er schaut neugierig zu mir herüber. Dann studiert er stirnrunzelnd die Karte. Die Frau hat sich wieder hinter dem Tresen an ihren Schreibtisch gesetzt, sie sortiert jetzt irgendwelche Papiere. Der Kleine schaut mich nachdenklich an, die Pfeife klemmt zwischen seinen Zähnen und ab und zu stößt er ein kleines Rauchwölkchen aus. Ich erwidere eisern seinen Blick. Dann steckt er meine Karte in die Brusttasche, streckt den Arm aus und winkt mich mit dem Zeigefinger zu sich. Ich überlege einen Augenblick, aber dann denke ich an meine Anteile, stehe auf und gehe auf ihn zu.
Kommen Sie mit“, sagt er.

Wir sitzen im Büro des Kleinen. Er hat bei seiner Vorzimmerdame, einer eleganten , schlanken Person, die die langen Haare aufgesteckt trägt, Tee bestellt – das sei mir doch recht? – und ich nicke nachdrücklich. Als wir in seinem Zimmer verschwinden, glaube ich zu sehen, daß sie mich kalt und abschätzend taxiert.
Keine Störung“, sagt er kurz, als die Dame den Tee serviert. Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen, aber er schneidet ihr mit einer knappen Bewegung der Pfeifen-Hand das Wort ab. Ihr Gesicht drückt heftige Mißbilligung und Wut aus, als sie abgeht, und sie läßt die Tür einen Spalt offen. Das scheint hier so üblich zu sein, ich habe auf unserem Weg hierher mehrere Türen gesehen, die ganz oder halb geöffnet waren. Er steht auf und schließt die Tür. Dann wirtschaftet er in einem Aktenschrank herum, und ich habe Gelegenheit, mich umzusehen. Die Einrichtung ist solide, aber sie stammt noch aus der Vorwendezeit, die Schrankwand ist eine Version der „Leipzig III“, so etwas habe ich auch mal gehabt. Überall liegen Papiere herum. Mich interessiert besonders der Breuer-Sessel in der Ecke, er ist das einzige extravagante Möbel im Raum. An den Wänden hängen ein paar Bilder, Originale, die ich nicht einordnen kann. Einerseits wirken sie wie von einem Amateur gemalt, andererseits zeigen sie eine große Detailfreude und Genauigkeit, und ich glaube eine Wanderung auf dem schmalen Grat zwischen Dekoration, Kunst und Kitsch zu erkennen. Während wir über den Hof gingen, hat er sich vorgestellt. Er hieße Grünert und sei hier der Vorstand. Er hat ein paar Papiere auf seinen Schreibtisch ausgebreitet und nippt an seinem Tee, und ich nippe auch. Es ist ein ganz ausgezeichneter Tee, und ich nicke deutlich mehrmals mit dem Kopf und mache meine Kennermiene. Grünert stopft sich eine neue Pfeife. Dabei darf man einen Pfeifenraucher nicht stören, und ich warte geduldig. Dann brennt die Pfeife, der Tabakduft zieht durch den Raum, und ich schnuppere gierig mit geweiteten Nasenflügeln.
Eine Genossenschaft, in der sich der Vorstand um die Erbschaftsangelegenheiten seiner Mitglieder kümmert“, sage ich. „Interessant.“
Er wirkt irritiert. Vermutlich ist er es nicht gewöhnt, daß seine Handlungen hinterfragt werden.
Unsinn“, sagt er, und er macht wieder die typische Bewegung mit der Pfeifenhand, mit der er schon seine Dame zum Schweigen brachte. „Die Unterlagen geben Sie unserer Frau Mayer, erster Stock, die ist dafür zuständig.“ Er schweigt. Dann zieht er meine Karte aus seiner Brusttasche, studiert sie noch einmal und fragt: „Was heißt ‚Ermittlungen‘? Sind Sie Detektiv?“
Ja.“
Haben Sie freie Kapazitäten?“
Ja.“ Ich warte, und es macht ihn sichtlich nervös.
Ich hätte was für Sie.“
Sie als Privatmann oder die Genossenschaft?“
Er überlegt.
Ich. Privat. Macht das einen Unterschied?“
Ich zucke mit den Schultern. Was soll ich ihm dazu sagen?
Ich verlange vierzig Euro pro Stunde plus Spesen, dreihundert bekomme ich als Vorschuß. Ich schicke Ihnen ein Vertragsformular zu. Sobald Sie es unterschrieben zurückgeschickt haben, mache ich mich an die Arbeit.“
Er nickt. Er steckt ein paar Papiere in einen Umschlag. Dann füllt er einen Scheck der Volksbank aus und reicht ihn mir mit dem Umschlag über den Tisch.
Sie werden verstehen, daß ich erst den Scheck einreichen muß“, sage ich.
Er nickt wieder. Dann schildert er mir sein Problem. Ein paar Mitglieder hätten sich über ein anderes Mitglied beschwert. Der Genossenschafter tauche sehr selten, eigentlich nie, darin würden die Beschwerdeführer voneinander abweichen, in seiner Wohnung auf, die Hausordnung würde von einer fremden Person erledigt, die einen Schlüssel hätte. Die Jalousien vor seinen Fenstern seien ständig geschlossen, und Nachbarn hörten oft seltsame Geräusche aus der Wohnung. Manchmal sähen die Nachbarn merkwürdige Gestalten durchs Treppenhaus schleichen. Die Genossenschafter wären verunsichert, und er, Grünert, möchte, daß das aufhört. Er benutzt das Wort „Genossenschafter“, das in der DDR üblich war, obwohl die Mitglieder einer Genossenschaft eigentlich „Genossen“ sind. Aber dieses Wort war einem anderen Personenkreis vorbehalten.
Warum reden Sie nicht einfach mit ihm?“ frage ich.
Ich habe meine Gründe. Beschaffen Sie mir einfach Beweise für das, was da vor sich geht. Alles Nötige finden Sie da drin.“ Er zeigt auf den Umschlag, den ich immer noch mit dem Scheck in der rechten Hand halte. Ich nicke, stecke beides in meine Seitentasche und erhebe mich. Wir verlassen das Büro. Die Vorzimmerdame rückt nervös ihren Stuhl zurecht, mich trifft ein lauernder Blick – oder bilde ich mir das nur ein? Grünert geleitet mich zu Frau Mayer, erster Stock, und gibt ihr – wieder leise – ein paar Anweisungen. Dann verabschiedet er sich. Ich gebe Frau Mayer meine Unterlagen. Sie prüft sie gründlich und fertigt Kopien an, die sie in eine Klarsichthülle steckt.
Das kann aber dauern“, sagt sie. „Die Auszahlung der Anteile kann erst nach Abschluß des laufenden Geschäftsjahres erfolgen.“
Und nach Bestätigung der Bilanz“, ergänze ich und grinse sie an.
Sie sind aber gut informiert!“.
Davon lebe ich.“
Sie könnten auch Inhaberschuldverschreibungen erwerben. Aber dazu müßten Sie natürlich ordentliches Mitglied sein …“, grübelt sie.
Geben Sie mir einen Aufnahmeantrag“, sage ich lachend. „Nur so, vorsichtshalber.“ Sie gibt mir ein Formular, über dem „Beitrittserklärung“ steht, und eine Satzung. Ich lächle sie an und verabschiede mich. Sie hat einen festen und warmen Händedruck.

Ich warte nicht, bis der Scheck auf meinem Konto gutgeschrieben ist. Ich schicke Grünert sofort das Vertragsformular an seine Privatadresse, und es kommt prompt unterschrieben zurück. Ich habe den Stadtplan studiert und mir die ersten Schritte überlegt. Als erstes will ich mir einen Eindruck verschaffen, das mache ich immer so. Ich packe beide Kameras ein und fahre zum Wohnort der „Zielperson“, sie heißt Friebel, Edmund Friebel. Die Wohnanlage liegt am Ostrand der Stadt, und sie stammt aus den achtziger Jahren. Die Wohnblöcke sehen alle gleich aus, sie variieren nur in der Höhe, mal fünf Geschosse, mal sechs. Vor den Eingängen stehen Schilder, auf denen die Eigentumsverhältnisse dokumentiert sind. Ich halte und schaue. „Kommunale Wohnungsbau GmbH“ steht da, nein, das kann es nicht sein. Ich sehe mich um. Der gegenüberliegende Block sieht besser aus. Die Außenwände sind frisch gestrichen, und vor jeder Eingangstür wölbt sich ein Schutzdach aus Glas und Stahlrohren. Ich schlendere hinüber und schaue nach. „Konnex eG“ steht auf dem Schild. Und da ist auch die Nummer zwölf. Ich schaue mich um, niemand zu sehen. Ich trete vor die Tür und lese die Namensschilder auf dem Klingelbrett. Wo „Friebel“ stehen sollte, steht „Sonne“. Ich schaue mich noch einmal um und mache verstohlen eine Nahaufnahme mit der kleinen ‚Olympus‘. Dann schlendere ich zu meinem Auto zurück. Ich suche mir einen günstigen Parkplatz, montiere das Teleobjektiv an die Spiegelreflex, kurbele das Seitenfenster herunter und warte.

Niemand beachtet ein Auto, das am Straßenrand parkt, schon gar nicht, wenn es eins von hunderten ist. Ein Grund mehr für mich, mir die anderen parkenden Fahrzeuge genau anzusehen, aber ich kann nichts Ungewöhnliches entdecken. Leute gehen vorüber, es ist Nachmittag, sie tragen ihre Einkäufe vom Discounter nach Hause oder führen ihre Hunde spazieren. Die Köter kacken auf den Rasen vor den Haustüren, und die Besitzer lassen die Scheiße ungerührt liegen. Das Ordnungsamt könnte anständig Kasse machen. Langsam kommen die Werktätigen nach Hause, die Parktaschen füllen sich. Müde Männer in Latzhosen latschen schwerfällig über den Rasen zu ihren Hauseingängen, nicht ohne einen kurzen Blick zurück auf ihre Fahrzeuge zu werfen. Genervte Frauen räumen ihre Einkäufe aus dem Kofferraum und versuchen gleichzeitig ihre Kinder zu bändigen. Ein paar Gymnasiasten hasten vorbei und schubsen eine Gruppe Viertklässler auseinander, die ihnen im Wege ist. Die Kleinen protestieren lauthals, aber sie werden es später genau so machen. Sie sind mit ihren Schulranzen schwer bepackt, und einige tragen zusätzlich ihr Sportzeug in großen Taschen mit sich herum. Eine alte Frau hatscht mit ihrem Rollator vorüber. Ein Behinderter kommt auf seinem Elektrorolli hinter mir auf der Straße vorbei, ein Autofahrer fühlt sich gestört und hupt ihn wütend an. Die Straßen sind schmal und ihre Führung entzieht sich jeder vernünftigen Logik. Sie sind für „Wartburgs“ und „Trabants“ geplant worden, jetzt müssen sie Transporter, Vans und lange Kombis verkraften. Niemand achtet auf mich. Die Tür der Nummer zwölf wird ein paarmal geöffnet und wieder geschlossen. Es sind aber ganz normale, durchschnittliche „Genossenschafter“, die kommen oder gehen, und ich verlasse mich auf meinen Instinkt. Ein paar Stellplätze links neben mir hält ein Kleintransporter der Caddy-Klasse. Eine Frau steigt aus, öffnet die Heckklappe und entnimmt dem Transporter Eimer, Besen und anderes Reinigungswerkzeug. Sie knallt die Klappe zu und geht zur Nummer zwölf. Ich schieße ein paar Fotos. Dann warte ich ein paar Minuten, steige aus und schlendere wie zufällig auf dem Fußweg hin und her. Ich sehe keine Aufschrift auf dem Transporter, und ich merke mir das Kennzeichen. Dann steige ich wieder in mein Auto und notiere die Nummer. An einem Fenster in der ersten Etage wird das Rollo hochgezogen und das Fenster geöffnet, es ist Friebels Wohnung. Danach geschieht das selbe mit dem zweiten Fenster. Nach einer Weile werden die Fenster wieder geschlossen und die Rollos heruntergelassen. Ich denke nach, dann steige ich kurz entschlossen aus und drücke mich in der Nähe der Haustüre herum. Ich muß nicht lange warten. Ein älteres Paar kommt. Er öffnet umständlich die Tür, und sie gehen hinein. Ich springe hinzu und kurz bevor die Tür wieder ins Schloß fällt, wird sie von meiner Fußspitze daran gehindert. Ich schaue mich kurz um, niemand beachtet mich. Ich gehe hinein und steige zum ersten Stock hinauf. An Friebels Tür ist kein Name angebracht, auch nicht an seiner Klingel. Hinter der Tür höre ich einen Staubsauger rauschen. Ich klingele. Der Staubsauger verstummt. Ich lausche. Nichts. Ich klingele noch einmal. Wieder nichts. Also klopfe ich derb gegen die Tür. Die Tür wird einen Spalt breit geöffnet.
Es ist niemand zu Hause“, sagt eine schüchterne Frauenstimme.
Ich bin von der Versicherung. Ich möchte zu Herrn Friebel“, sage ich laut und bestimmt. Ich hoffe, daß das Treppenhaus Ohren hat.
Er ist nicht da.“
Es ist aber wichtig, es geht um seinen Unfall“, sage ich und hebe die Stimme noch eine Nuance.
Sie öffnet die Tür noch ein Stück. „Ich bin nur die Putzfrau.“ Sie schaut mich ratlos an.‘
Wie gibt er Ihnen denn seine Anweisungen?“
Es gibt keine Anweisungen, ich mache einfach sauber.“
Ich barme ein bißchen herum, dann zucke ich mit den Schultern und verabschiede mich wortreich. Mir ist, als höre ich eine Treppe höher eine Tür klappen. Ich steige die Treppe hinab, auf dem Absatz mache ich halt. Oben rauscht wieder der Staubsauger. Ich drehe mich um und steige lautlos wieder hinauf. Im zweiten Stock lausche ich. Hinter einer Tür höre ich eine Radiostimme, und ich klingele. Die Tür öffnet sich.
Wenn Sie Herrn Friebel suchen, der ist nie zu Hause“, sagt die Frau ohne auf meinen Gruß zu achten. „Sind Sie von der Polizei?“
Nein, ich bin von der Versicherung“, sage ich, setze die Brille auf und zeige ihr einen grünen Ausweis, der seinen Inhaber als Gast des Hotels „International“ aus Zimmer zweiunddreißig legitimiert. „Was könnte die Polizei von ihm wollen?“ Ich stelle mich dumm.
Dort gehen seltsame Dinge vor sich“, sagt sie leise und weist mit ausgestrecktem Zeigefinger nach unten. Ich schweige und schaue sie erwartungsvoll an. „Seltsame Menschen, die niemand kennt, kommen und gehen zu unchristlichen Zeiten. Man hört komische Geräusche. Aber der Friebel ist nie da.“
Nie? Aber ich muß ihn sprechen. Wegen seines Unfalls. Da geht nie jemand ans Telefon.“ Dieses Mal zeige ich nach unten. Sie schüttelt den Kopf. „Die anderen Mieter kennen Sie aber alle?“ frage ich vorsichtig.
Aber ja. Die meisten wohnen von Anfang an hier. Der Friebel ist aber erst vor drei oder vier Jahren eingezogen, klammheimlich, plötzlich war er da. Und er hat sich immer unsichtbar gemacht. Niemand kennt ihn, niemand weiß, wie er aussieht.“
Ich verabschiede mich und gehe. Als ich den ersten Stock passiere, lausche ich kurz. Der Staubsauger ist verstummt, ich höre Eimerklappern und Wasserrauschen. Ich gehe hinunter und setze mich wieder in mein Auto. Es dauert etwa zwei Stunden, dann kommt die Putzfrau. Ich bin vorbereitet und folge ihrem Transporter. Ich habe keinen wirklichen Verdacht, aber man weiß ja nie.

Sie fährt zu schnell, und sie scheint nervös zu sein. Erst vergißt sie zu blinken, dann vergißt sie, den Blinker abzuschalten. Dann wechselt sie unvermittelt in die Rechtsabbiegerspur. Ein Opel hupt wütend. Ich habe Mühe, dranzubleiben. Wo hat die ihren Führerschein gemacht? denke ich. Und wenn sie nur nervös ist, was ist die Ursache? Sie biegt in eine Straße ein, die sich „Kalaunische Felder“ nennt, im Volksmund wird sie „die Kaldaune“ genannt. Das Besondere ist, daß sie eigentlich nur ein Weg ist, der sich ein paar Kilometer weit zwischen Gartenkolonien, ein paar Gewerbegrundstücken und einigen alten Einfamilienhäusern hindurchzieht. Es gibt keine Fußwege, und stellenweise ist die Straße nur eine Schotterpiste. Sie hält vor der Gartenkolonie „Erholung“, man kennt sie in der Stadt als „Holla“, und es ist eine große und alte Kolonie. Was will sie hier? Lauben säubern? Oder die Gartenkneipe? Mir dämmert etwas. Ich parke ein Stück weiter hinter einem Transporter mit Kastenaufsatz, er schirmt mich ab. Ich steige aus, haste zum Eingang der Kolonie und kann gerade noch sehen, wie die Putzfrau vom Hauptweg in einen der Nebenwege einbiegt. Sie hat es sichtlich eilig. Die Wege sind leer. Ein paar Hard-Core-Gärtner pusseln noch an ihren Beeten herum. Ich gehe bis zum Abzweig des Nebenweges, stelle mich hinter eine Platane und warte. Dort steht ein Informationsbrett, das ich intensiv zu studieren beginne.
Freie Gärten – für nur einen Euro!“
Arbeitseinsatz am Sonnabend.“
Kinderfest am 1. Juni.“
Endgültige Schließung der Gartenkantine zum 31. August.“
Ein Auge habe ich immer auf den Nebenweg. Da kommt sie. Ich merke mir den Garten, aus dessen Tür sie tritt. Ich drehe mich um und gehe langsam und zum Schein in die falsche Richtung durch die Kolonie. Ich wende vorsichtig den Kopf, die Putzfrau geht, sichtlich erleichtert und entspannt, in die andere Richtung zum Ausgang. Ich folge ihr, und ich erwische sie gerade noch, als sie abfährt. Ich bleibe dran, aber wir fahren nicht weit. In Thekla hält sie vor einem Plattenbau und steigt aus. Sie geht gezielt auf einen der Eingänge zu, das Reinigungswerkzeug läßt sie im Transporter, und ich mache ein paar Aufnahmen. Dann verschwindet sie hinter der Haustür. Ich notiere mir Straße und Hausnummer. Für heute habe ich genug, und ich fahre nach Hause. Ich telefoniere noch ein bißchen herum, dann mache ich Feierabend. Nach einem kleinen Abendessen gieße ich mir ein Glas Rotwein ein. Voll Neid denke ich an Grünert und seine Tabakspfeifen. Dann setze ich mich in meinen Schwingsessel und vertiefe mich wieder in den Roman, in dem ein kleiner Koch von einem großen Cowboy durch die Vereinigten Staaten gejagt wird.

Am anderen Morgen verwandle ich mich in einen Gartenfreund. Ich ziehe die kurze Windjacke und die Manchesterhose an und setze die graue Schiebermütze auf. Statt meiner Brille mit dem schmalen Stahlgestell stecke ich die mit dem braunen Plastikrahmen in die Brusttasche, die kleine Kamera stecke ich in die Seitentasche. Als ich gehen will, ruft Regina an. Sie ist „meine Frau im Amt“, und ich lernte sie kennen, als ich mein neues Auto anmelden wollte.
Möchten Sie eine besondere Nummer?“ fragte sie damals freundlich. Damit hatte ich nicht gerechnet.
Äh, nein, danke, ich nehme, was Sie haben.“ Wie sollte ich ihr erklären, daß ich auf gar keinen Fall eine auffälliges Kennzeichen gebrauchen kann?
Ich hätte hier noch ‚Nordpol-Nordpol 5885‘ für Sie“, sagte sie. „Kostet nichts extra.“ Sie sah mich erwartungsvoll an.
Sehen Sie“, sagte ich und beugte mich über ihren Schreibtisch, „ich bin daran interessiert, eine stinknormale Nummer an meinem Auto zu haben.“ Dann fügte ich etwas leiser hinzu: „Aus beruflichen Gründen.“
Ich bin dann ein paar Mal mit ihr ausgegangen, auch im Bett waren wir zusammen, aber sie ist glücklich verheiratet, und das wollten wir nicht ändern. Seitdem ist sie „meine Frau im Amt“, und für ein Abendessen versorgt sie mich gern mit wichtigen Informationen.
Was ist es Dir wert?“ fragt sie kokett.
Ein Abendessen bei mir“, sage ich.
Damit ist es dieses Mal nicht gemacht.“ Ich stutze.
Was ist los? Was besonderes?“
Nicht am Telefon.“
Gut“, sage ich. „Am Freitag um acht?“ Ihr Mann hat freitags seinen Herrenabend, bei dem es immer sehr spät wird.
Einverstanden“, sagt sie und legt auf.
Das beunruhigt mich etwas. Aber ich habe zu tun, und ich muß los. Ich fahre in den Osten der Stadt in die „Kaldaune“ und suche mir ein wenig abseits der „Holla“ einen Parkplatz. Dann setze ich die Brille mit dem breiten dunklen Rahmen auf und spaziere auf dem breiten Hauptweg durch die Anlage. Ab und zu bleibe ich stehen und begutachte die Gärten. Besonders diejenigen, die man leicht als herrenlos erkennen kann. Ich nehme mir auch Zeit für die Nebenwege. Die Gartenfreunde schauen mißtrauisch, und ich grüße höflich, und manchmal beginne ich ein Gespräch. Ich sei auf der Suche nach einem neuen Garten, meine alte Anlage in Oschatz, und ich hoffe, das ist weit genug entfernt, müsse einem Einkaufszentrum weichen. Und weil meine Kinder hier lebten, läge es doch nahe, mir hier einen zu suchen. Bald weiß ich, an wen ich mich deshalb zu wenden hätte, aber der Gartenfreund käme immer erst abends. Ab und zu hole ich die kleine ‚Olympus‘ aus der Tasche und mache eine Aufnahme von einem der herrenlosen Gärten. Ich hoffe, meine gespielte Unbeholfenheit kommt an. Und sie kommt an. Bald werde ich von einer Dame zu einem Kaffee eingeladen. Sie verrät mir alle Vereinsinterna, aber den Friebel kennt sie auch nicht, hätte mich gewundert. Er macht sich auch hier unsichtbar, und das ist eine Meisterleistung. Als ich mich verabschiede, ich wolle mir noch den Rest der Anlage anschauen, fragt sie, ob ich nicht später auf ein Glas vorbeikommen wolle. Ich schaue sie aufmerksam an. Flaches rundes Gesicht, sanfte braune Augen, kräftige Schenkel, strammer Hintern, große Brüste. Die Kittelschürze ist verrutscht, und ich kann ihr tief bis zum BH und weiter sehen. Ich nicke und lächle sie an.
Warum nicht?“ sage ich. „Warum nicht?“
Ich nähere mich unter taktischen Rochaden dem friebelschen Seitenweg. Ich schlendere ihn hinunter und schaue mich um wie gehabt. Gegenüber von Friebels Garten entdecke ich einen herrenlosen, das nenne ich Glück! Ich fotografiere, schaue und mache mir Notizen, umständlich und langwierig. Dabei habe ich immer Friebels Garten im Auge. Er wird von einer Hecke umgeben, die von statutenwidriger Höhe ist, im Hintergrund ist die Laube zu erkennen. Sie ist ein solides Häuschen aus Ziegeln, die Veranda ist zusätzlich durch einen Sichtschutz gesichert. Seine Größe verstößt mit Sicherheit gegen das Kleingartengesetz der Bundesrepublik. Aber in dieser Gartenkolonie verstoßen alle Lauben gegen das Kleingartengesetz. Ein Mann, den ich für Friebel halte, verläßt die Laube und kommt langsam ans Gartentor.
Was machen Sie hier?“ fragt er drohend. In den Händen hält er einen stabilen Rechen.
Ich suche einen freien Garten. Dieser ist doch frei, oder?“ ich zeige auf den Garten vor mir.
Keine Ahnung. Sie müssen sich an den Vorstand wenden.“
Natürlich. Aber es ist doch besser, sich vorher zu informieren, nicht wahr?“
Er dreht sich um und will gehen.
Warten Sie!“ rufe ich. „Sie kennen sich doch bestimmt hier aus.“
Aber er beachtet mich nicht und marschiert ab in Richtung Laube. Ich kann gerade noch ein Foto von ihm improvisieren. Dann gehe ich zurück zum Hauptweg. Auf dem Hauptweg schaue ich kurz auf den Monitor der ‚Olympus‘. Der Mann, von dem ich glaube, daß er Friebel ist, ist einigermaßen gut zu erkennen. Ich gehe zu meinem Auto und setze mich hinein. Ich muß nachdenken.

Am Nachmittag fahre ich auf den Parkplatz der „Konnex eG“. Ich habe Grünert angerufen, ihm einen Zwischenbericht gegeben und um Mithilfe gebeten. Frau Mayer, erster Stock, hatte er nur gesagt, die wüßte Bescheid, ansonsten möge ich die anderen Mitarbeiter nicht behelligen. Frau Mayer scheint eine Vertrauensperson zu sein. Ich klopfe an ihre Tür, die einen breiten Spalt geöffnet ist, und grüße.
Kommen Sie herein“, sagt sie erfreut. Dann schließt sie sorgfältig die Tür. „Ich bin informiert. Möchten Sie einen Kaffee?“
Ich möchte nicht, aber ich lächele sie an und nicke eifrig mit dem Kopf. Der Kaffee ist bereits fertig, und sie füllt die Tassen, ich bitte um Zucker und viel Sahne. Dann lege ich ihr Friebels Foto vor.
Ja, den kenne ich. Aber das ist nicht Herr Friebel.“ Ich bitte sie um eine Beschreibung „ihres Herrn Friebel“. Klein, schmal, blaß, verhuscht, schütteres Haar, sie zuckt mit den Schultern. Mein Friebel auf dem Foto ist stämmig, rundes Gesicht, energisches Kinn, kurz geschorenes Haar, ärmelloses Trikothemd, um den Hals trägt er ein Goldkettchen, aber das kann man auf dem Foto nicht erkennen. Ich lege ihr ein Foto der Putzfrau vor.
Das ist Frau Friebel.“
Ist sie auch Mitglied?“
Nein.“ Sie reicht mir einen dünnen Ordner. „Das ist eine Kopie von Herrn Friebels Akte. Die dürfen Sie behalten. Sagt der Chef.“
Ihr Chef ist wohl sehr beliebt?“ Ich lächle sie an.
Ja“, sie lächelt verlegen.
Sagen Sie“, ich zögere, „die Dame in seinem Vorzimmer, diese Frau …“
Schubert, Frau Schubert.“ Ihr Gesicht verdüstert sich.
Was können Sie mir über Frau Schubert erzählen?“
Nichts.“ Ich Gesicht wird abweisend.
Nun gut, aber wer ist der Mann auf dem Foto?“
Wie er heißt, weiß ich nicht. Aber ich habe ihn schon mehrmals auf dem Betriebshof gesehen. Auch an dem Tag, als Herr Friebel die unterschriebenen Anträge gebracht hat.“
Aber Friebel hat nicht in Ihrer Anwesenheit unterschrieben, oder?“
Nein, das ist auch nicht erforderlich.“
Ich nicke. „Aber seine Frau war bei ihm, als er Ihnen die Anträge gab?“
Ja. Moment, jetzt, wo Sie so fragen … Das kam mir damals schon so merkwürdig vor.“
Was?“
Ich kann’s nicht benennen. Es war seltsam. Als würde sie jede seiner Bewegungen überwachen.“
Ich verabschiede mich. Sie lächelt mich entschuldigend an.
Tut mir leid“, sagt sie.
Sie haben mir, äh, Ihrem Chef, sehr geholfen.“

Als ich in mein Auto steigen will bekomme ich eine SMS von Regina. Sie könnte am Freitag nicht, es gäbe dicke Luft. Das fragliche Kennzeichen sei vor zwei Jahren als gestohlen gemeldet worden. Es hätte ursprünglich einem Dr. Kaltofen, Veterinär aus Machern, gehört, völlig unverdächtig. Ich verlasse den Betriebshof und finde drei Häuser weiter ein Lebensmittelgeschäft. Ich halte, kaufe ein paar Flaschen anständigen Weins und fahre wieder in den Osten der Stadt, in die „Kaldaune“. Meine stramme Gärtnerin pusselt immer noch in ihren Beeten herum. Ich stelle mich an das Gartentor und halte eine Flasche Wein hoch.
Ich will mich revanchieren. Interessiert?“
Zunächst erkennt sie mich nicht. Wie auch? Bin ich doch jetzt der Versicherungsvertreter. Aber dann lächelt sie verschämt und kommt mir auf dem Gartenweg entgegen.
Ich dachte, Sie hätten mich vergessen.“
Nein“, sage ich. Ich lege ihr meinen rechten Arm um die stramme Hüfte. Sie reagiert sofort und legt ihren linken um meine, aber das ist zu umständlich, und so gehen wir einfach nebeneinander her in ihre Laube. Auch diese Laube verstößt gegen das Kleingartengesetz, und das ist gut so.

Ich erwache und verspüre Harndrang. Für diese Zwecke hat mir die Gärtnerin eine Taschenlampe bereitgelegt. Ich stehe auf, verlasse die Laube und entleere mich in irgendeinem Beet. Dann gehe ich zurück und schlüpfe wieder unter die Decke. Meine Gärtnerin brummelt irgendetwas und schmiegt sich an mich. Ich denke nach. Ein Kerl, der sich Friebel nennt, wohnt in seiner Gartenlaube, statt in seiner eigenen Wohnung. Er schickt einen anderen Kerl vor, als es um die Genossenschaftsanteile geht, und er läßt ihn dabei von einer Tussi überwachen, die sich als seine Frau ausgibt, aber in Wirklichkeit nur die Putze ist. Den anderen Kerl kennen wir noch nicht. Außerdem hält er es für nötig, das Auto seiner Putze mit einem geklauten Nummernschild auszustatten. Ich muß den anderen Kerl finden, aber von dem weiß ich eigentlich gar nichts. Nur daß er klein, schmal, blaß und verhuscht ist, und daß er schütteres Haar hat. Ein dünner Mann … Ich sollte eher über ihn stolpern, als mir lieb sein wird. Aber das weiß jetzt noch nicht, und ich schlafe wieder ein.

Am frühen Morgen verabschiede ich mich bald. Ich fahre nach Thekla und bringe mich in der Nähe des Plattenbaus, in dem die Putzfrau wohnt, so in Position, daß ich die Haustür und ihren Transporter beobachten kann. Ich warte. Dann kommt sie, steigt in ihr Auto und fährt los. Ich folge ihr. Ich mag dieses Spiel nicht, aber ich beherrsche es. Wir fahren quer durch die Stadt. Zuerst nach Paunsdorf, dann nach Schönefeld, weiter geht’s nach Mockau und Reudnitz. Meine Spiegelreflex hat gut zu tun, und mein Notizbuch füllt sich mit Adressen. In jeder Wohnung verbringt sie etwa drei Stunden, mittags bleibt sie etwas länger in einer der Wohnungen, klar, wenn man so ackert, bekommt man Hunger. Am Abend kehrt sie nach Thekla zurück. Ich bin genauso erschöpft wie sie. Ich beobachte noch, wie sie ihr Haus betritt, dann stelle ich ein paar Überlegungen an und mache mir Notizen. Plötzlich fährt ein Renault Wind auf den Parkplatz, eisblau, das Verdeck ist versenkt. Am Steuer sitzt die Schubert, Grünerts Vorzimmerdame. Sie trägt eine große Sonnenbrille, und ihre Haarpracht verbirgt sie unter einem Tuch. Sie fährt das Hardtop hoch, steigt aus und marschiert zielstrebig zum Hauseingang der Putzfrau. Ich bin elektrisiert und mache Fotos. Sie klingelt und schaut sich nervös um. Dann öffnet sie die Tür und verschwindet im Treppenhaus. Sieh mal einer an, denke ich, dein Instinkt ist immer noch sehr in Ordnung! Aber für heute mache ich Schluß. Ich fahre nach Hause und mache mir ein Abendessen. Dann gönne ich mir ein Krostitzer und einen Nordhäuser. Ich setze mich vor den Fernseher und zappe durch die Kanäle. Kochshow, Comedyshow, Quizshow, Realitysoap, Rosamunde-Pilcher-Film – und im Ersten wird ein Spiel der Champions-League übertragen. Ich lande auf Leipzig Fernsehen. Sie senden eine Führerstandmitfahrt, und ich fahre mit der Linie 7 nach Böhlitz-Ehrenberg. Es dauert eine Weile, wir sind bereits am Rathaus Leutzsch, bis ich die Schrift auf dem Laufband unten richtig wahrnehme. Sonst halte ich das Laufband für ein Ärgernis, aber jetzt schaue ich interessiert hin: „Toter im Elstermühlgraben. Spaziergänger fanden am Nachmittag eine männliche Leiche im Elstermühlgraben. Die Polizei kann ein Verbrechen nicht ausschließen. Weiter Informationen im Internet auf …“. Ich schalte den Fernseher aus und gehe ins Internet. Sie haben ein Foto des Toten veröffentlicht. Er ist klein, schmal, blaß, er wirkt verhuscht, und er hat dünnes Haar und ist etwa 40 Jahre alt. Er wirkt auf mich wie ein armes, krankes Würstchen. Obwohl der Zusammenhang rein äußerlicher Art ist, kommt mir wieder „Der dünne Mann“ von Hammett in den Sinn. Ich lade das Foto herunter und fertige einen Ausdruck an.

Am nächsten Morgen bin ich schon vor neun Uhr bei Frau Mayer, erster Stock. Sie ist gerade gekommen, und sie ist ein wenig erstaunt. Können wir die Tür schließen?“ frage ich.
Aber ja.“ Sie schließt die Tür.
Kennen Sie den?“ Ich lege das Foto des Toten aus dem Elstermühlgraben auf ihren Schreibtisch.
Ja. Das ist Herr Friebel.“ Aber sie hat dazugelernt. „Der Mann, den ich als Herrn Friebel kenne“, korrigiert sie sich vorsichtig.
Ist Ihnen etwas Besonderes an ihm aufgefallen? Sprechweise, Dialekt, Mundart, die Zähne, irgendein körperliches Gebrechen?“
Sie denkt nach.
Er hat schlechte Zähne. Rechts oben fehlen zwei.“ Sie hält inne und überlegt. „Er sprach eigentlich ganz normal, aber eher, als hätte er die achte Klasse nicht beendet. Aber die Mundart – er war nicht von hier.“ Sie zuckt mit den Schultern.
Magdeburg? Berlin? Rostock? München? Können Sie es einordnen?“
Sächsisch war es schon. Aber nicht von hier.“
Dresden? Chemnitz?“ Sie denkt wieder nach.
Jetzt weiß ich’s!“ ruft sie. „Vogtland! Wir waren immer in Stützengrün im Urlaub …“.
Wann ist bei Ihnen eigentlich Feierabend?“ frage ich.
Planmäßig um fünf“, sagt sie leise.
Ich bedanke mich und sause die Treppe hinunter. Grünerts Vorzimmerdame spricht auch Vogtländisch, zwar rudimentär, aber ganz klar Vogtländisch. Wie lange kann ich mich jetzt noch heraushalten? Der Tote ändert die Sachlage völlig. Ich gebe mir einen Tag Zeit.

Ich verbringe den Tag mit Bürokram und Telefonieren. Die Telefongespräche sind nicht sehr aufschlußreich, aber sie bestätigen meine Vermutungen. Als es auf fünf zugeht, fahre ich los Richtung Ostrand der Stadt. Ich suche mir einen Parkplatz in der Nähe der Nummer zwölf, von dem aus ich den Fünfgeschosser gut beobachten kann. Wenn meine Vermutung stimmt, dann wird hier irgendwann irgendetwas passieren. Ich warte. Es wird neunzehn Uhr. Dann kommt der eisblaue Renault Wind, dieses Mal ist das Hardtop geschlossen. Die Schubert steigt aus und geht zielstrebig auf den Eingang zu. Sie trägt einen grauen Staubmantel, aber der ist offen, und ich kann die offenherzige Bluse und den knappen Rock erkennen. Die Frisur ist frisch gerichtet, in der Hand trägt sie ein unauffälliges Delsey-Beautycase. Ich mache ein paar Aufnahmen. Sie schließt die Haustür auf, schaut sich kurz um und verschwindet. Die Tür geht langsam zu. Ich warte wieder. Gegen zwanzig Uhr kommt eine schwarze Limousine. Ein Mann steigt aus, ein Trumm von Mann. Er trägt eine Art bayerische Salon-Tracht, sehr schick und sehr teuer. Die Kofferraumklappe öffnet sich lautlos, und der Mann entnimmt dem Kofferraum eine lederne Reisetasche und einen Aktenkoffer. Er orientiert sich kurz an den Hausnummern, dann geht er entschlossen auf die Nummer zwölf zu. Wieder schieße ich einige Fotos. Er klingelt, und ihm wird umgehend geöffnet. Ich warte wieder, und ich denke voll Neid an Grünerts Tabakspfeifen, an seinen wunderbaren Tabak und an den Duft, den die kleinen Rauchwölkchen verbreiten. Ich steige aus und vertrete mir die Beine. Die Limousine hat ein Münchener Kennzeichen, und ich merke es mir. Es wird einundzwanzig Uhr dreißig, da kommt die Schubert aus der Tür. Sie sieht nicht mehr ganz so proper aus wie vorhin. Das Licht reicht für ein paar weitere Aufnahmen. Sie fährt los und aus irgendeinem Reflex heraus folge ich ihr. Ich weiß, wo sie wohnt, ich habe Regina bemüht, weil ich Frau Mayer und Grünert nicht damit belästigen wollte. Wir verlassen die Plattenbausiedlung, und ich überlege, wieviel Grünert vom Treiben seiner Vorzimmerdame weiß oder ahnt. Plattenbausiedlung – das klingt immer so nach einer kleinen, überschaubaren und gemütlichen Wohnsiedlung, mit ein paar Garagen, ein paar netten Spielplätzen, Trockenplätzen und ein paarhundert Bewohnern. Aber hier leben zwölftausend Menschen. Sie fährt den selben Weg wie die Putzfrau und wir landen in der „Kaldaune“. Die Straße ist zu dieser Zeit fast völlig leer, nur vor den Einfamilienhäusern und den Gartenkolonien stehen ein paar PKWs herum. Ich vergrößere den Abstand, und ich muß jetzt sehr aufpassen. Sie hält vor der „Holla“ und steigt aus. Wieder hat sie das Beautycase in der Hand. Sie schließt das Tor zur Kolonie auf, geht hinein und verschließt es wieder sorgfältig. Wäre ich näher dran, könnte ich sie jetzt den Hauptweg entlangstöckeln hören. Ich überlege, was wohl meine stramme Gärtnerin jetzt gerade macht. Ich wende und fahre nach Hause. Zu Hause finde ich einen Brief meines Vermieters in meinem Kasten, und ich lege ihn ungeöffnet zur Seite. Ich habe keinen Hunger, aber ich habe eine Verabredung mit Mister Irving und Signora Bardolino, und die will ich nicht sausen lassen.

Am anderen Morgen rufe ich meinen alten Schulkameraden Hansi an. Hansi ist Kriminaloberkommissar bei der Mordkommission, und er wird wissen, worum es geht.
Hier ist Bodo. Ich weiß, wer der Tote aus dem Elstermühlgraben ist.“ Ich übertreibe ein wenig.
Das wissen wir auch. Was willst Du?“ Hansi, Du lügst, denke ich. Er war schon als Schüler ein verdammter Lügner. Mir fällt die Episode mit dem Meerschweinchen ein. Wir waren in der fünften Klasse oder in der sechsten …
Fehlen ihm oben rechts zwei Zähne?“ frage ich.
Ja. Das haben wir aber noch gar nicht veröffentlicht“ Hansi wird hellhörig.
Mir ist ein strafrechtlich relevanter Vorgang kenntlich geworden, in den er verwickelt sein könnte.“ Ich quäle mir ein wenig Amtsdeutsch ab.
Dann komm her und mach‘ eine Aussage.“
Laß uns ein Bier zusammen trinken. Dann erzähle ich Dir, was ich weiß.“ Und Du erzählst mir, was Du weißt, soll das heißen.
Na gut. Heute um acht im ‚Seeblick’“. Der Name der Kneipe ist nur ein Witz, aber dort treffen wir uns für Gewöhnlich auch mit anderen ehemaligen Klassenkameraden. Ich verbringe den Tag damit, den Bericht für Grünert vorzubereiten. Zwischendurch denke ich darüber nach, was ich Hansi verraten kann und was nicht. Ich drucke ein paar Fotos aus, die den Bericht illustrieren sollen. Es sind hauptsächlich Fotos meiner Protagonisten, aber auch eins, das den bayerischen Großkopferten zeigt, nur der Vollständigkeit halber. Vielleicht hatte Grünert schon mal geschäftlich mit ihm zu tun. Gegen sieben mache ich mich auf den Weg, natürlich fahre ich mit der Straßenbahn.

Das ‚Hotel Seeblick‘ liegt in der Südvorstadt. Aber weder ist es ein Hotel, noch gibt es irgendwo einen See, auf den man blicken könnte. Hansi, Gerhard, Rolfi und ein paar andere aus der ‚Körnerplatzclique‘ sind in dieser Gegend aufgewachsen, die Wohnung meiner Eltern lag mehr in Richtung Norden, in der Nähe des Bayerischen Bahnhofs, kurz bevor die Südvorstadt in den Peterssteinweg übergeht. Hansi ist schon da, ein sicheres Zeichen dafür, daß er sehr er an meinen Informationen interessiert ist. Wir schütteln uns die Hände. Die Chefin bedient heute selbst, sie stellt mir ungefragt ein Bier und einen Nordhäuser hin, und ich bedanke mich. Sie ist vor Kurzem in einer Kochshow des Zweiten am Gewinn von zehntausend Euro vorbeigeschrammt. Ein Freund hat ein paar Fotos, die während der Show entstanden sind, und die sie zusammen mit dem Star der Show, einem Sternekoch, zeigen, an die Wand gehängt. Der Freund ist Stammgast im ‚Seeblick‘, und er erzählt die Geschichte des Desasters allen, die sie noch nicht kennen, und manchmal auch denen, die sie bereits mehrmals gehört haben. Hansi hebt sein Glas, das noch fast voll ist, und wir prosten uns zu. Ich nehme einen tiefen Zug, wische mir den Mund ab und schütte den Korn hinterher. Dann nehme ich noch einen großen Schluck von meinem Bier. Hansi nippt nur und schaut mich lauernd an. Ich erkläre ihm, wie ich an die Sache geraten bin und worin mein Auftrag besteht. Dann nehme ich einen Bierdeckel und leihe mir von der Wirtin einen Stift.
Also, paß auf“, sage ich und drehe den Bierdeckel um. Dann schreibe ich die Namen der beteiligten Personen kreisförmig an den Rand.
Friebel, das ist die Schlüsselfigur und der Macher. Schubert, Frau Schubert, sie betreibt das Geschäft, hm, beide Geschäfte, außerdem ist sie Friebels Geliebte. Die Putzfrau, sie hält die Wohnung sauber und und ist für das Grobe zuständig. ‚Dehpunktemmpunkt‘, der Tote aus dem Elstermühlgraben, er ist der Strohmann.“
Dehpunktemmpunkt? Was soll das heißen?“
Der Dünne Mann“, sage ich und hebe eine Augenbraue.
Ich denke, Du weißt, wer er ist?“ Hansi kennt offenbar Hammett nicht.
Ich mache doch nicht Eure Arbeit.“ Hansi guckt jetzt ganz böse. „Warts ab“, fahre ich fort. „Zwischen all diesen Personen gibt es Verbindungen.“ Ich male einen Pfeil mit zwei Spitzen zwischen Friebel und der Putzfrau. „Ziemlich eindeutig. Sie arbeitet für ihn, und sie versorgt ihn mit Informationen. Außerdem gab sie sich als Frau Friebel aus, als sie Dehpunktemmpunkt zur Genossenschaft begleitete.“ Ich male einen Pfeil mit einer Spitze zwischen der Putzfrau und Dehpunktemmpunkt. Dann male ich einen Pfeil mit zwei Spitzen zwischen der Schubert und Friebel. „Sie ist seine Geliebte und Komplizin, wahrscheinlich auch seine Angestellte. Sie koordiniert alle Aktivitäten, denn …“, ich male eine Pfeil mit einer Spitze zwischen der Schubert und der Putzfrau, „… auch sie haben Kontakt miteinander. Dafür gibt es zwei Zeugen, mich und meine Kamera.“ Hansi runzelt die Stirn.
Aber Dein Dehpunktemmpunkt hängt noch in der Luft“, sagt er.
Nein“, sage ich. Ich zeichne einen gestrichelten Pfeil mit zwei Spitzen zwischen der Schubert und Dehpunktemmpunkt, und ich schweige einen Moment. Wieder runzelt Hansi die Stirn.
Sie sprechen beide die selbe Mundart. Vogtländisch.“
Hansi stöhnt auf und schlägt theatralisch die Hände vors Gesicht.
Dann mache ich ein Kringel um Dehpunktemmpunkt und male ein Kreuz dahinter.
Und hier endet meine Kompetenz. Den Friebel findest Du in der Gartenkolonie ‚Erholung‘, Parzelle 386.“
Hansi nimmt den Bierdeckel und den Stift und zeichnet einen einfachen Pfeil zwischen Friebel und Dehpunktemmpunkt, die Spitze des Pfeils zeigt auf Dehpunktemmpunkt.
Jetzt ist das Tetragon komplett.“ Er steht auf und verläßt das Lokal. Als er zurückkommt steckt er sein Handy in die Tasche. Er bestellt noch zwei Lagen.
Meine Kollegen lassen ab sofort die Kolonie nicht mehr aus den Augen.“ Er schweigt. „Der Dünne wurde erschlagen und in den Elstermühlgraben geworfen“, sagt er dann. Wir prosten uns zu, und auch Hansi trinkt dieses Mal herzhaft.
Kein guter Platz, eine Leiche verschwinden zu lassen.“
Nein. Wir haben auswertbare Spuren an ihm gefunden, und die Tatwaffe haben wir auch. Mehr kann ich Dir jetzt nicht sagen.“
Wir sitzen, trinken und schweigen. Als wir ausgetrunken haben, ziehe ich meine Geldbörse aus der Tasche, aber Hansi winkt ab, und ich stecke sie wieder ein. Dann verabschieden wir uns. Während ich in der Straßenbahn sitze und döse, denke ich an meine stramme Gärtnerin, und ich hoffe, daß Hansis Leute bei Friebels Verhaftung nicht allzuviel Staub aufwirbeln werden. Wieder zu Hause, fällt mir der Brief meines Vermieters ein, und ich öffne den Umschlag. Jemand hat ihm gesteckt, daß ich in meiner Wohnung ein Gewerbe betreibe, und er verlangt ab dem nächsten Ersten die dreifache Miete. Mistkerl!

Am nächsten Morgen mache ich den Bericht für Grünert fertig und schreibe die Rechnung. Ich stecke alles in einen Umschlag und überlege. Dann fülle ich die Beitrittserklärung der Genossenschaft aus und stecke sie in einen zweiten Umschlag. Ich rufe Grünert an. Ob ich ungestört mit ihm reden könne, frage ich, nicht am Telefon und wirklich ungestört. Er überlegt einen Moment. Ich möge heute Abend gegen acht zu ihm nach Hause kommen, antwortet er dann. Seine Adresse hätte ich ja. Ich stecke die Briefumschläge in eine Mappe und fahre zum Betriebshof der Konnex. Ich schaue mich noch ein wenig auf dem Hof um, bevor ich in den ersten Stock gehe. Im Sozialgebäude gibt es ein Souterrain. Es wirkt verlassen und unbenutzt. Ich gehe hinüber und schaue durch das Fenster. Ich sehe ein paar alte Büromöbel, ein paar alte Leuchten, ein paar Regale und einen Stahlschrank. Ein Arbeiter kommt aus der Tür des Sozialgebäudes, es ist Frühstückszeit, und ich spreche ihn an. Er guckt mißtrauisch, aber dann sagt er, daß der Raum eigentlich nicht benutzt würde. Den Stahlschrank hätten sie vor zwei Jahren dort abgestellt, es sei eine rechte Plackerei gewesen. Er runzelt die Stirn. Ich bedanke mich und steige hinauf zum ersten Stock. Die Tür zu Frau Mayers Büro steht wieder halb offen, und ich klopfe gegen den Türrahmen.
Guten Morgen.“
Guten Morgen. Kommen Sie herein.“
Sie geht zur Tür, um sie zu schließen. Dann bietet sie mir Platz und setzt sich an ihren Schreibtisch. Ich reiche ihr die Beitrittserklärung, sage kein Wort. Sie nimmt sie und prüft sie gründlich, Frau Mayer ist in allem, was sie tut, gründlich.
Ich möchte Anteile in Höhe meiner Erbschaft zeichnen“, sage ich. „Läßt sich das machen?“
Natürlich“, sie lächelt. „Es wäre dann noch die Aufnahmegebühr fällig. Über Ihren Beitritt entscheidet der Vorstand.“
Ich habe die Satzung gelesen, und ich nicke. Ich erhebe mich. Sie erhebt sich auch, und wir schütteln uns die Hände. Ich halte ihre Hand fest und frage: „Haben Sie morgen nach Feierabend schon etwas vor?“
Nein.“
Um fünf, hier? Ich hole Sie ab.“
Besser halb sechs.“
Ich lächle sie an und gehe. Als ich an der Treppe bin, blicke ich zurück. Sie steht vor ihrem Büro und schaut mir nachdenklich hinterher. Zwei Angestellte kommen schwatzend die Treppe herauf, und ich mache ihnen Platz. Frau Mayer verschwindet in ihrem Büro.

Kurz vor zwanzig Uhr biege ich in die Straße ein, in der Grünert wohnt. Es ist eine seltsame Straße. Ein paar Datschen, ein paar Einfamilienhäuser, ein paar unbebaute Grundstücke, ein paar Nutzgärten, keine Fußwege. Ich fahre die Straße hinunter. Sie endet unvermittelt als Feldweg auf einem Acker, auf dem man Raps für Biodiesel angebaut hat. Ich wende und fahre zurück. Schließlich finde ich die Nummer 18. Eine Hausnummer, ein Briefkasten und ein Namensschild, aber keine Klingel. Die Tür ist offen, und ich betrete das Grundstück. Es ist mit Kiefern und Birken bewachsen, ein paar Sträucher, viel Gras, aber kein Rasen und keine Beete. Neben einem Baumstumpf entdecke ich einen großen Ameisenhaufen Roter Waldameisen. Zwischen den Bäumen sehe ich Fensterscheiben und verputztes Mauerwerk. Ich bleibe stehen.
Hallo, Herr Grünert!“ rufe ich. Und noch einmal: „Hallo, ich bin’s, Bindseil!“
Zwischen den Bäumen, auf dem Weg, taucht Grünert auf. Zwischen seinen Zähnen klemmt eine Pfeife, und er winkt mich mit dem Zeigefinger zu sich. Ich runzele die Stirn und gehe auf ihn zu.
Kommen Sie ‚rein.“
Guten Abend“, sage ich.
Setzen Sie sich. Was trinken? Weißwein?“
Trocken?“
Natürlich.“
Ja. Bitte.“
Er gießt Wein in zwei Gläser und stellt sie auf einen niedrigen Tisch. Dann setzt er sich in einen bequemen Sessel. Ich nehme ihm gegenüber in einem anderen Platz. Die Datsche ist winzig, keine dreißig Quadratmeter groß, es gibt eine Kochnische und hinter einem Vorhang verbirgt sich wahrscheinlich das Bett. Er ist der Chef der größten Wohnungsgenossenschaft der Stadt, man kennt ihn, man zitiert ihn, sein Wort hat Gewicht. Es vergeht kein Monat, in dem er nicht von Leipzig Fernsehen oder irgendeinem Lokalblatt zu einem beliebigen Thema interviewt wird.
Wo malen Sie Ihre Bilder?“ frage ich.
In einem Schuppen, auf dem Grundstück.“ Er zeigt mit dem Pfeifenstiel vage in eine Richtung.
Ich war bei Ihrer Frau Mayer, erster Stock, und habe eine Beitrittserklärung abgegeben.“
Glückwunsch, gute Wahl“, sagt er. Er hebt sein Glas, ich gebe ihm Bescheid, und wir trinken. Der Wein ist gut, etwas anderes hätte mich gewundert. Dann beginne ich meinen mündlichen Bericht.
Friebel vermietet seine Wohnung tageweise teuer an begüterte Wessis, die eben mal in der Stadt zu tun haben. Ob er der Zuhälter der Schubert ist, oder ob sie auf eigene Rechnung arbeitet, weiß ich nicht. Die Polizei wird Friebel in Kürze verhaften. Vermutlich auch die Schubert“, beende ich meinen Vortrag. Wir sitzen und schweigen.
Hatten Sie mit ihr ein Verhältnis?“
Er nickt. Seine Pfeife ist erloschen. Für einen Moment wirkt er wie ein gebrochener Mann, aber nur für einen Moment. Ich erhebe mich. Auf einem Regal steht das Foto einer hübschen jungen Frau. Ich trete näher, sie ähnelt Grünert, wie ich finde.
Meine Tochter“, sagt er, während er eine neue Pfeife stopft.
Ich habe meine Tochter seit Jahren nicht gesehen, und ich weiß auch nicht, ob mein Enkelkind ein Junge oder ein Mädchen ist, geschweige denn, wie es aussieht. Etwas in mir verkrampft sich, und ich schüttele mich. Ich setze mich wieder in den Sessel.
Das war’s dann wohl“, sagt Grünert. „Sie haben schnell gearbeitet.“
Ein einfacher Betrugsfall“, sage ich. „Aber etwas daran stört mich.“
Grünert schaut mich fragend an.
Der Tote. Wegen der paar Kröten bringt man niemanden um. Bei Mord und Totschlag gibt es immer zwei mögliche Motive: Beziehungskisten und richtig viel Geld.“
Sind Leute nicht schon wegen viel weniger umgebracht worden?“
Das ist ein Schwachpunkt meiner Theorie. Nehmen wir aber mal an, es steckt nicht nur Betrug und Prostitution dahinter.“
Was denn noch?“
Erpressung, Wirtschaftsspionage, was weiß ich?“
Die Polizei wird es herausfinden.“
Das ist mein zweiter Schwachpunkt. Ich habe keine Ahnung, wie weit Hansi in den Fall hineingehen wird. Ich weiß auch nicht, welche Ressourcen er noch haben wird, wenn er erst einmal den Mörder oder Totschläger überführt hat, und wie schnell er dann noch sein kann.
Ich muß mir die Wohnung ansehen“, sage ich bestimmt.
Grünert überlegt.
Kommen Sie morgen in mein Büro. Ich gebe Ihnen einen Generalschlüssel.“
Gut. Halten Sie mir die Schubert vom Leibe. Beschäftigen Sie sie unablässig. Lassen Sie ihr keine halbe Stunde Freiraum.“

Am nächsten Vormittag habe ich wieder meinen Beobachtungsposten vor der Nummer zwölf bezogen. Ich sitze und warte, Sitzen und Warten sind die wichtigsten Tätigkeiten eines Detektivs. Die bayerische Limousine ist noch da. Ich sehe keinen verdächtigen Wagen, in dem einer von Hansis Leuten sitzen könnte, und ich grüble, warum. Vermutlich haben sie Friebel noch nicht festgenommen. Vielleicht arbeiten sie noch an der Analyse der Spuren. Aber das kann sich jederzeit erledigt haben, und ich sitze wie auf Kohlen. Dann kommt der Münchener aus der Haustür. Er steckt irgendetwas in den Briefkasten und geht zu seinem Wagen. Er verstaut sein Gepäck und fährt weg. Ich kenne inzwischen seinen Namen und seine Profession. Bei mir wäre er Kandidat Nummer eins, sowohl für eine Erpressung als auch für ein wenig Spionage. Oder beides. Ich nehme mein Netbook, steige aus und gehe zur Haustür. In der Wohnung nehme ich mir zuerst das Wohnzimmer vor. Die Kameras finde ich schnell, eine im Wohnzimmer und zwei im Schlafzimmer. Ihre Installation wurde dilettantisch ausgeführt, und das spricht nicht für das Wirken eines gefährlichen internationalen Spionagerings. Den Server finde ich in der Küche, in einer Kühlvitrine, die ansonsten gut mit Getränken gefüllt ist. Das Versteck ist clever gewählt, finde ich. Ich kopiere alle Dateien, an die ich ohne große Probleme herankomme, auf mein Netbook, stapele die Getränke wieder in die Vitrine, verlasse die Wohnung und verstaue den Computer in meinem Auto. Ich rufe Grünert an und sage ihm, jetzt könne er der Schubert freie Bahn lassen. Dann gehe ich zurück in die Wohnung. Dieses Mal habe ich, nur zur Sicherheit, meine „Makarow“ dabei. Ich setze mich auf die Toilette, öffne die Tür einen Spalt, lösche das Licht und warte.

Jemand öffnet die Wohnungstür, und ich schrecke hoch. Beinahe wäre ich eingenickt. Ich erhebe mich von meinem Sitz, ziehe die Pistole und überzeuge mich, daß sie gesichert ist. Ich lausche. Ich höre das Stöckeln von hochhackigen Schuhen. Die Frau geht zielstrebig in der Wohnung umher, schließlich geht sie in die Küche, und ich höre Flaschen klirren. Jetzt ist sie an der Kühlvitrine. Ich stelle mich in die offene Küchentür.
Hallo, Frau Schubert.“ Sie fährt herum.
Sie Scheißkerl! Ich wußte, daß mit Ihnen etwas nicht stimmt.“ Sie faßt sich schnell. „Was machen Sie hier? Was wollen Sie?“
Wollen mal sehen“, brumme ich. „Machen wir es uns doch bequem.“ Ich trete ein paar Schritte zurück und dirigiere sie mit der Pistole durch den Flur ins Wohnzimmer. Sie bleibt neben dem Couchtisch stehen. Er ist ein selten häßliches Stück. Sein Unterbau ist die bronzefarbene Skulptur einer nackten Frau. „Hinsetzen“, herrsche ich sie an. Sie setzt sich widerwillig in einen Sessel. Ich bleibe neben der Tür stehen, und ich lasse sie nicht aus den Augen.
Wer hat Ihren Bruder erschlagen?“ frage ich sie.
Was? Woher wissen Sie …“, stammelt sie.
Ich habe meine Hausaufgaben gemacht“, sage ich. „War es Friebel?“
Ja.“ Ihre Stimme bricht.
Wieso?“
Sie haben sich gestritten.“
Weshalb?“ Ich will es genau wissen, und ich lasse nicht locker.
Mein Bruder, nun, er war ein bißchen eigen. Und er war der Meinung, daß er einen größeren Anteil zu beanspruchen hätte.“
Ihr Bruder war psychisch krank. Er war von Ihnen abhängig, sie waren seine Betreuerin. Und was Sie sagten, war für ihn Gesetz.“
Nein, so war das nicht!“
Sie waren der Meinung, daß Ihnen ein größerer Anteil zustünde. Die Einnahmen aus Ihrem Gewerbe und die Provision für die Vermietung und die Erpressungen genügte Ihnen nicht. Und da haben Sie Ihren Bruder vorgeschickt. Aber es lief aus dem Ruder. War es so?“
Sie nickt und beginnt zu schluchzen. Ich fische mein Handy aus der Tasche und wähle Hansis Nummer. Es dauert eine Weile, ehe er sich meldet. Sie hätten eben Friebel verhaftet, sagt er.
Seine Komplizin kannst Du in Friebels Wohnung abholen. Die Adresse ist …“.
Die Adresse kennen wir!“ schnauzt er mich an.
Mach hin, ich habe noch eine Verabredung!“ sage ich.
Bodo, ich reiß‘ Dir den Arsch auf, Du!“ ist seine Antwort.

Frau Mayer, erster Stock, heißt mit Vornamen Sieglinde. Wir haben im „Goldenen Lotus“ in Mockau Ente mit Spargel gegessen. Dann sind wir ein wenig durch die angrenzende Gartenkolonie spaziert. So ein Garten wäre noch mal ein Traum von ihr, sagte sie eher beiläufig. Ich gab ihr keine Antwort und legte ihr stattdessen meinen Arm um die Schulter, Gartenbau ist nicht unbedingt meine Branche. Dann haben wir ein bißchen herumgeknutscht. Mir war, als hätte jemand die Uhr um fünfunddreißg Jahre zurückgestellt, und ich wäre wieder sechzehn Jahre alt, und ich schlenderte mit meiner Freundin Lilo im Spätherbst abends durch die Gartenkolonie „Marienbrunn“, und wir bleiben alle paar Meter stehen, um uns zu küssen. Als ich Lilo an die Brust fassen wollte, hat sie mir eine gescheuert, und das ist es dann auch gewesen. Sieglinde aber haute mir keine herunter. Ich fuhr sie nach Hause, und wir verabredeten uns für das Wochenende.

Am anderen Morgen schlafe ich mich gründlich aus. Ich frühstücke ausgiebig und mit Genuß. Dann telefoniere ich mit Sieglinde, und sie sagt mir, daß kürzlich eine Wohnung nach meinen Wünschen frei geworden sei, und daß der Chef meinen Antrag um Aufnahme unbedingt befürworten werde. Ich bin zufrieden. Ich setze mich hin und schreibe meinem Vermieter einen bösen Brief, der, neben ein paar ausgesuchten Beschimpfungen, die Kündigung seiner überteuerten Wohnung enthält. Die Beschimpfungen lösche ich wieder und ersetze sie durch ein paar höfliche Insulte. Am Nachmittag, ich habe eben mein Schläfchen beendet, ruft Grünert an. Er will wissen, wie es ausgegangen ist. Ich gebe ihm einen kurzen Bericht. Ob er sich schon nach einer neuen Assistentin umgesehen habe, frage ich hinterlistig. Das soll eine Retourkutsche auf sein verdammtes Zeigefingergewinke sein, aber ich bekomme keine Antwort.
Was ist mit dem Souterrain?“ wechsele ich das Thema.
Was?“
Das Souterrain des Sozialgebäudes. Vermieten Sie es mir? Als Büro?“
Er schweigt, die Stille im Hörer ist greifbar. Dann räuspert er sich.
Warum nicht.“
Auch ein paar Möbel. Nur bis ich mir selbst …“
Rufen Sie nächste Woche bei Frau Mayer an. Ich gebe ihr die entsprechenden Anweisungen.“
Dann beenden wir das Gespräch. Der Grad meiner Zufriedenheit steigert sich ins Unermeßliche. Ich erledige noch ein paar Telefonate und ein bißchen Bürokram. Dann mache ich es mir gemütlich. Mister Irving und Herr Dornfelder erwarten mich.

* * *

© Juni 2012 Leipzig und Wettin-Löbejün by Bernd Mai

 

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