Anton schreibt eine Geschichte

Anton schreibt eine Geschichte

von Bernd Mai

Neulich fiel Anton ein Roman von John Irving in die Hände. In dem Roman spielen Penisse und Vulven eine überragende Rolle, und er ist über tausend Seiten dick. Anton ist sofort fasziniert. Auch wegen der Penisse und Vulven, aber besonders wegen des dichten Geflechts von Handlung und Figuren, das der Autor ausbreitet, und Anton schafft die Hälfte des Romans in zwei Tagen. Das ist kein Rekord, aber immerhin. Und wie so oft macht ihm der Roman Lust, seine eigene literarische Produktion wieder aufzunehmen. Anton hatte zwar schon immer den Wunsch, Sexualität direkter und konkreter darzustellen, aber aus irgendeinem Grund ist es nie dazu gekommen. Irvings Roman ermuntert ihn dazu.

Anton fällt eine Geschichte aus seiner Jugend ein, an die er noch heute manchmal mit Bedauern denkt. Nach einem Klassenfest war er mit einer Klassenkameradin nach Hause gegangen. Das Mädchen wohnte im Nachbarhaus, sie hatten denselben Weg, und vor der Haustür hatten sie ungeschickt ein wenig herumgeschmust. Weiter passierte nichts, und es hatte auch weiter keine Folgen. Das Mädchen hatte eine Zwillingsschwester, aber die war zu dieser Zeit in einem Krankenhaus. Sie hätte einen Nervenzusammenbruch gehabt, hieß es.

Anton denkt sich eine Geschichte aus. Sie beginnt mit dem bewußten Klassenfest. Der Held geht in die Fremde und kehrt nach Jahren wieder heim. Und begegnet seiner ehemaligen Klassenkameradin wieder, und sie werden ein Paar. Anton beschreibt ausführlich, wie sie das erste Mal Sex haben, und weil die beiden so unerfahren sind, passieren dabei viele lustige Dinge. Aber etwas fehlt noch, findet er, und er beschließt, daß der Held aus Versehen mit der Zwillingsschwester schlafen soll. Auch das beschreibt er ausführlich und mit viel Spaß. Jetzt weiß er aber nicht, wie er das auflösen soll. In seiner Verlegenheit macht er die Mutter der beiden Mädchen zehn Jahre jünger als ihr reales Vorbild und unversehens zur Witwe. … und Anton findet die Lösung: Die Mutter verführt den Helden. Zuerst findet er die Situation recht angenehm, dann aber wächst ihm alles über den Kopf. Er packt seinen Koffer, gibt seiner eigenen Mutter einen Kuß und taucht in Pommern bei einem alten Freund aus der Armeezeit unter. Der ist Feldbau-Brigadier in einer LPG, und sie suchen dringend Schlosser für ihre maroden Landmaschinen. Die Geschichte endet damit, daß er in einem pommerschen Dorf, in der tiefsten pommerschen Provinz, aus dem Bus steigt. Er klopft an ein Hoftor und fragt die üppige, hübsche pommersche Bäuerin, die ihm öffnet, nach dem Weg zum Büro der LPG. Mit einer kleinen Andeutung auf neue Abenteuer endet die Geschichte.

Er speichert den Text ab und spielt noch ein wenig „Bricks“. Dann klappt er sein Notebook zu und geht zu Bett. Er schaut sich den Text zwei Tage lang nicht an. Dann liest er ihn durch, und beginnt zu ändern. Er stellt Sätze und Passagen um, er streicht ganze Absätze und strafft Dialoge. Hier und da fügt er eine Kleinigkeit hinzu. Weitere zwei Tage später liest er die Geschichte wieder durch, und er ändert wieder. Dieses Mal streicht er vor allem. Die Geschichte wird knackig und rund. Er läßt überflüssige Füllsätze weg, er präzisiert verwaschene Figurenrede, und er verknappt Landschaftsschilderungen. Und wieder läßt er die Geschichte ruhen. Vor dem Einschlafen überlegt er, ob er mit der Mutter-Sache nicht zu dick aufgetragen hätte. Am nächsten Morgen ändert er sie so: Die Mutter bekommt ihr angestammtes Alter und ihren Gatten zurück, man entdeckt des Helden Doppel-Beziehung und die ganze Familie will ihm ans Leder. Und jetzt gibt es einen echten Grund für seine Flucht!

Anton wird die Geschichte nochmals und nochmals lesen und wieder liegen lassen, und am Ende wird er beschließen, sie im Internet auf seiner Web-Seite zu veröffentlichen. Aber ein klein wenig zweifelt er doch. Wegen der freizügigen Details. Und er beschließt, eine zweite Meinung einzuholen. Bettina kommt dafür nicht in Frage, Anton müßte zu viele Fragen beantworten. Also schreibt er seiner Chat-Freundin Ina im hohen Norden eine kurze E-Mail und hängt die Geschichte an. Ina ist eine kluge Frau, und sie teilt nicht nur seine Vorliebe für alles Maritime. Außerdem hat sie einen hanseatisch-geraden Charakter, und er ist sich sicher, daß sie nicht drumherumreden wird.

Am Abend treffen sie sich im Chatroom.
„Hallo, Ina, wie geht’s? Was machen die ‚Kleinen Freunde’?“ schreibt er.
„Hallo, Anton, sie tanzen wieder Samba!“ tickert Ina zurück.
Sie nennt ihre chronischen Schmerzen ihre ‚Kleinen Freunde’, und Anton ist immer wieder beeindruckt. Er selbst bedenkt seine Kreuzschmerzen mit ganz anderen Ausdrücken. Sie plänkeln ein wenig hin und her.
Anton hält es nicht mehr aus: „Und, was sagste?“
Zunächst sagt Ina gar nichts.
„Seit wann schreibst du Pornographie?“
Anton schildert ihr, wie er auf den Stoff gekommen ist.
„Und du hältst dich für den deutschen John Irving?“
Anton ist beleidigt. Er versucht ihr zu erklären, welche Wirkung die Lektüre von großer Literatur auf ihn hat.
„Und die Sache mit der Zwillingsschwester erscheint mir unglaubwürdig“, tickert Ina.
Antons Held heißt Wolfgang, genannt Wolfer. Die Zwillinge heißen Angelika und Brigitte, Wolfers Freundin ist Angelika, er nennt sie „Angsche“ und ihre Schwester „Gitti“.

Anton schildert den Fehltritt etwa so: Die jungen Leute sind zwanzig und leben jeweils noch bei ihren Eltern. In jenem Land und zu jener Zeit war das üblich. Wolfers Eltern sind ein paar Tage zu Verwandten nach Chemnitz gefahren, damals war das noch die Stadt mit den drei O. Er hat sich mit Angsche zum Abend in seiner Wohnung verabredet, und er freut sich auf das Beisammensein und er hat sich reichlich mit Kondomen eingedeckt. Die Zwillinge waren Krankenschwestern geworden, und obwohl sie – weißgott – keine Kinder mehr sind, tragen sie immer noch weitgehend die gleichen Kleider. Angsche mußte überraschend einen Dienst außer der Reihe übernehmen, und Gitti geht ins Nachbarhaus, um Wolfer zu informieren, Telefon hatte man damals nicht. Gitti ist im Gegensatz zu Ihrer Schwester ein wenig schüchtern und manchmal auch depressiv, eine Folge jenes „Nervenzusammenbruchs“, der sie als Schülerin ereilt hatte. Sie klingelt bei Wolfer, der öffnet, hält sie für seine Freundin, freut sich wie ein Klein-König, und seine Hormone spielen verrückt. Er zieht sie in die Wohnung und küßt sie nach Kräften, wobei er sie in sein Zimmer schiebt. Die arme Brigitte, sie erlebt so etwas zum ersten Mal! Sie kommt nicht zu Wort, und sie wird schwach, und sie finden sich in Wolfers Bett wieder. (Oder hat sie es darauf angelegt? Anton beschließt, darüber nachzudenken.) Nach einer stürmischen Nummer sind beide erschöpft, und Wolfer muß auf die Toilette. Gitti-Angsche „liegt schwer atmend auf den Rücken. Sie hat die Augen geschlossen und auf ihren Wangen zeichnen sich rote Flecken ab. Sie hat den Mund leicht geöffnet, und Wolfer sieht ihre Zähne wie eine Reihe weiß schimmernder Perlen glänzen.“ Er steht auf und sammelt taumelnd ihre Unterwäsche zusammen, er ist ein ordentlicher junger Mann. Und dabei entdeckt er ein Namensschild in ihrem Höschen … Anton ist stolz auf diese Lösung. Ina aber ist heute auf Krawall gebürstet. Ihre kleinen Freunde machen weiter Party, und sie will keinen Einwand gelten lassen. Anton verspricht, noch mal alles zu überdenken, aber sein Selbstbewußtsein als Autor hat einen Knacks bekommen.

In der Folge hat Anton andere Dinge zu erledigen. Bettina ist umgezogen, und Anton ist damit beschäftigt, ihre neue Wohnung mit Bohrlöchern für alles Mögliche zu versehen. Die Geschichte gerät ein wenig in Vergessenheit. Beim Einräumen von Bettinas Bücherregal findet er Strittmatters „Laden, Teil 2“. Anton liebt Strittmatter, und er liest sich fest. Er ist auf Seite 395, und plötzlich denkt er, es trifft ihn der Schlag. Strittmatters Held Esau erlebt just das Selbe wie Antons Held Wolfer! Das Buch erschien erstmals 1987. Will Anton nicht als Plagiator in die Geschichte der Web-Logs eingehen, kann er sein „Werk“ nicht veröffentlichen, jedenfalls nicht so. Er überlegt, ob er aus der Zwillingsschwester eine beste Freundin oder eine Cousine machen soll, aber dadurch verlöre die Geschichte ihren Reiz. Er löscht die Datei auf seiner Festplatte. Aber in seinem Kopf kann er nichts löschen. Er weiß, daß die Einzelheiten dort bleiben werden, und irgendwann werden sie sich melden, und irgendwann wird er sie in eine neue Geschichte einbauen. Aber es wird nicht mehr die Geschichte einer wunderbaren Dreiecksbeziehung sein.

John Irving, Bis ich dich finde; Diogenes
Erwin Strittmatter, Der Laden I – III; Aufbau

© September 2010

 

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