Anton geht baden

Anton geht baden

von Bernd Mai

 Nachdem Antons Rückenschmerzen chronisch geworden waren, beschloß er REHA-Sport zu betreiben. Man hat ihm im Hinblick auf sein Übergewicht geraten, es mit Wassergymnastik zu versuchen, und Anton schaut sich nach einer Gelegenheit um. Im nahegelegenen Spaßbad erfährt er, daß die Zuzahlung etwa vierzig Euro pro Monat betragen würde, und das ist ein Betrag, den er nicht übrig hat. Also ruft Anton bei seiner Krankenkasse an. Er nennt seinen Namen und seine Versichertennummer, und er erläutert der freundlichen jungen Frau am anderen Ende der Leitung sein Problem. Das sei keine „Zuzahlung“, erklärt ihm die junge Frau, das sei der normale Mitgliedsbeitrag des Studios, und den würde die Kasse natürlich nicht erstatten. Anton ist baff, das hatte er nicht erwartet.
„Was nun?“, fragt er.
„Wenn Sie unser Magazin aufmerksam lesen, dann finden Sie immer wieder Angebote für Kurse, die wir abhalten. Die sind für Sie kostenlos“, sagt die junge Frau.

Das Magazin findet Anton einmal monatlich in seinem Briefkasten, und er wirft es konsequent ungelesen sofort ins Altpapier. Das kann er natürlich nicht zugeben, und er druckst herum. Dann beginnt die junge Frau, es ihm zu erklären. Sie spricht so schnell, wie eine AK 47 schießt, und Anton versteht, auch akustisch, nur die Hälfte. Als die junge Frau Luft holt, unterbricht er sie.
„Bitte“, sagt er etwas lauter, „könnten Sie die wesentlichen Punkte noch einmal wiederholen? Zum Mitschreiben?“
Sie stockt einen Moment, dann spricht sie langsamer. Die Krankenkasse organisiert regelmäßig die verschiedensten REHA-Sportkurse, das wird im Magazin veröffentlicht. Man meldet sich an, und wenn sich genügend Teilnehmer finden, wird der Kurs auch abgehalten. Das kostet die Mitglieder nichts, wenn sie an 80% der Veranstaltungen teilnehmen. Anton meldet sich für einen Wassergymnastikkurs an, und er ist sehr mit sich zufrieden. Außerdem beschließt er, das Magazin in Zukunft wenigsten durchzublättern, bevor er es wegwirft.

Drei Wochen vor Kursbeginn erhält Anton die endgültige Bestätigung und den ersten Termin. Der Kurs findet in einem Sportbad im Leipziger Westen statt. Anton wohnt weit im Osten, und mißmutig sucht er im Internet nach der genauen Lage der Schwimmhalle. Aber er findet nichts, keine Internetseite scheint die Adresse zu kennen, außer der Seite der städtischen Bäderverwaltung, aber die schlägt als Anfahrt einen Weg vor, den Anton vor seinem inneren Auge nicht nachvollziehen kann. Er beläßt es dabei, aber die Sorge wegen eines längeren Fußmarsches, der ihm wieder endlose Qualen bescheren würde, bleibt. Anton kennt die Gegend ungefähr, und er weiß, daß es dort keine Parkplätze gibt. Um dort hinzugelangen, wird er also die Straßenbahn nehmen müssen. Auf der Seite einer bekannten Suchmaschine findet er endlich ein Foto. Dort hat er das Bad nicht erwartet, es liegt genau auf halbem Wege zwischen zwei Haltestellen, und das gefällt ihm nicht. Aber Anton hat beschlossen, es durchzuziehen, und er wird es durchziehen wie er es immer tut. Dann bestellt er sich im Internet eine neue Badehose, die alte ist zu klein geworden, und sie wird kurz vor Ultimo rechtzeitig geliefert. Sie ist etwas knapp geraten, aber es war die Größte, die sie hatten.

Anton steht pünktlich zum Kursbeginn mit dreizehn anderen Teilnehmern am Beckenrand. Es ist früher Nachmittag, trotzdem ist die Halle voll. Auf einigen Bahnen ziehen sportive Menschen ihre Bahn, auf anderen dümpeln die Teilnehmer anderer Kursgruppen herum, und der Trainer irgendeines Sportvereins brüllt ein paar Jungsportlern lautstark seine Anweisungen zu. Anton beäugt verstohlen seine „Sportfreunde“. Sie sind alle etwa in seinem Alter, ein paar mehr Frauen als Männer, und auch die Badehosen anderer Männer sitzen sehr knapp. Das beruhigt ihn. Anton hat zuvor in einer leer scheinenden Bahn einen Kopfsprung probiert, um den Sitz der Hose zu testen. Die Hose hat den Test bestanden. Als die etatmäßigen Nutzer angeprustet kamen, machte er sich aus dem Staube, man kann ja nie wissen!

Der Kursleiter, ein junger Mann, gibt einige Erläuterungen, und Anton muß sich anstrengen, im Lärm der Halle alles zu verstehen. Der junge Mann wirkt desinteressiert und gelangweilt. Er fordert die Teilnehmer auf, sich nicht bei ihm zu entschuldigen, wenn sie an einer Veranstaltung nicht teilnehmen könnten, er wäre sowieso nicht in der Nähe des Telefons, und – überhaupt – wäre es nur wichtig, daß man am Ende acht Unterschriften auf der Teilnehmerliste vorweisen könne. Dann verteilt er Schwimmgürtel und Schwimmnudeln, und Anton hat Mühe, einen passenden Gürtel zu finden, dessen Schnalle sich nicht ständig von selbst öffnet. Die Schwimmnudeln nennt er bei sich wegen ihrer Vielfarbigkeit „Winkelemente“, und er sollte noch herausfinden, daß sie genauso albern und überflüssig sind.

Dann beginnen sie mit den Übungen. Sie sind einfach, aber Anton hat Mühe, den Kopf über Wasser zu halten. Der Schwimmgürtel bringt zu viel Auftrieb, und die blöde Nudel macht, was sie will, und Anton treibt ständig ab, und er kommt den anderen REHA-Sportlern gefährlich nahe. Antons innerer Schweinehund meldet sich: „Das hätt’ste Dir ersparen können!“

Anton denkt an seine Jugendzeit, als er noch schmal und unscheinbar gewesen war, und als er mit den Kameraden von der Tauchsportgruppe für die Rettungsschwimmerprüfung trainiert hatte. Der Erwerb des Rettungsschwimmerausweises war Bestandteil der Tauchsport-A-Prüfung gewesen. Und die war wiederum Vorraussetzung für den Erwerb der B-Qualifikation, mit der man mit einem Tauchgerät tauchen gehen durfte … Aber daraus ist dann nichts mehr geworden, und Anton kommen beinahe die Tränen. Aber der innere Schweinhund schweigt jetzt, und Anton reißt sich zusammen. Langsam lernt er wieder, seine Bewegungen im Wasser zu koordinieren, und es gelingt immer besser.

Die Trainingsstunde geht zu Ende. Der Übungsleiter sammelt die Gürtel und die „Winkelemente“ ein, und Anton riskiert einen neugierigen Blick auf die Damen.
„Wie, zum Teufel, haben die es fertiggebracht, die Haare trocken zu halten?“, denkt er.
Die meisten Teilnehmer verlassen die Halle gleich, aber es sind noch zehn Minuten Zeit, und zwei, drei Einzelne schwimmen noch ein Stück die Bahn rauf und runter. Anton springt wieder ins Wasser und gesellt sich zu ihnen. Er fühlt sich noch gar nicht müde. Und als die Uhr die volle Stunde zeigt, klettert er als letzter aus dem Becken.

Im Umkleideraum ist es eng, und die nackten alten Männer benehmen sich wie eine Horde Halbwüchsiger. Die meisten der Männer gehören zu einer Gruppe von Freizeitsportlern. Sie diskutieren lautstark das Lokal ihrer nächsten Weihnachtsfeier, und sie reden alle durcheinander. Anton sieht zu, daß er den Umkleideraum verläßt. Draußen zieht er sich fertig an, und er steckt den Kopf unter einen großen Fön, der an der Wand angebracht ist. Dann verläßt er das Bad.

Zu Hause macht er sich einen Tee. Er setzt sich vor den Fernseher und schaut sich die Lokalnachrichten an. Er würde gern Bettina anrufen, um ihr Bericht zu erstatten, aber sie betreut heute Nachmittag ihre Enkel. Die Müdigkeit der Erschöpfung überkommt ihn ganz plötzlich. Es ist eine angenehme Erschöpfung, und Anton läßt sich treiben. Er erwacht, als das Telefon klingelt. Bettina ruft an, wie meistens zu dieser Zeit.
„Wie war’s?“, fragt sie.
„Nichts besonderes“, sagt er. Er überlegt, ob er ihr von seinen Schwierigkeiten mit dem Schwimmgürtel und dem „Winkelement“ erzählen soll. Aber er schildert ihr nur die Bauweise des neuen Bades, die Größe der Halle und der Becken, und wie eng es im Umkleideraum zugegangen ist. Dann reden sie noch über die Enkel. Als sie das Gespräch beendet haben, macht sich Anton ein kleines Abendessen, und er öffnet eine Flasche Bier. Als ihm später das Bierglas beinahe aus der Hand gleitet, geht er ins Bett.

Er träumt von seinen Schnorchelabenteuern im „Kanal“, und davon, wie er im Stadtbad beinahe mit dem Preßluftgerät verunglückt wäre. Auch vom Trainingslager am Stechlinsee, wo er ein Sauerstoffgerät hatte ausprobieren dürfen, träumt er, und von den Fahrten mit dem Schlauchboot über den See, wenn sie neue Lebensmittel und frisches Bier im Konsum von Stechlin besorgen mußten. Auch Gerhard, der ihm die Geheimnisse der Unterwasserfotografie nahegebracht hatte, kommt in seinen Träumen vor. Von der üppigen Gabi mit der großen Brille, die sich als Ferienaushilfe im Küchenzelt ein paar Mark verdiente, träumt er jedoch nicht. Sie hatte ihn in andere Geheimnisse eingeweiht. Und in all seinen Träumen ist er ganz jung, und er ist ein unscheinbares, schmales Kerlchen, das noch keine Rückenschmerzen kennt.

© Dez. 2010

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