von Bernd Mai
Anton arbeitete in den achtziger Jahren in einem städtischen Baubetrieb. Ihr Abteilungsleiter hatte es fertiggebracht, beim Bezirk eine Million Mark für einen rumänischen Computer locker zu machen. Es war ein Nachbau des legendären PDP-11, und Anton und seine Kollegen durften zum ersten Mal mit „richtigen“ Programmiersprachen „richtige“ Software entwickeln. Allerdings waren sie als Bezirksbaubetrieb dazu verpflichtet, allen Kreisbaubetrieben Rechenzeit und Software kostenlos zur Verfügung zu stellen. Der Computer mit all seinen Wechselplattenspeichern, Magnetbandgeräten, Terminals verschiedener Bauart und dem monströsen Banddrucker war so groß, daß sie drei ungenutzte Räume auf ihrer Etage hinzubekamen. Für solch ein kostbares Gerät brauchte man Hardwarespezialisten, die den Rechner warten und pflegen und im Notfall auch reparieren konnten. Man stellte drei Ingenieure ein, und einer von ihnen war Günter Kaulisch, alle nannten ihn Kaule.
Kaule war ein Könner, und Kaule war trinkfest. Er rauchte wie in Schlot, am liebsten „Karo“. Als die Kubaner begannen, die Lieferungen der DDR mit Tabak zu bezahlen, stieg er auf eine Zigarettenmarke Namens „Monte Christo“ um. Die war doppelt so stark wie „Karo“, aber sie schmeckte viel besser. Anton hat sie ab und zu probiert, wenn wieder einmal eine Flasche „Blauer Würger“ auf dem Tisch stand. Irgend jemand hatte immer Geburtstag, irgendeine Prämie gab es immer zu begießen, und vor dem Urlaubsantritt war immer eine Runde fällig. Zuerst Kaffee und Kuchen, und manchmal eine oder zwei Flaschen süßen Weins. Wenn die leer waren, begann einer betont auffällig in seinem Portemonnaie zu kramen und legte ein paar Münzen oder einen Fünfer auf den Tisch. Dann ein anderer, und dann der nächste. War genügend Geld zusammen, ging jemand los, eine Flasche „Goldbrand“ zu kaufen. Die kostete siebenundzwanzig Mark, und wenn das Geld für den Weinbrand nicht reichte, wurde „Blauer Würger“ gekauft, den sie mit „Vita Cola“ vermischten.
Kaules sarkastische Art von Humor gefiel Anton. Kaule interessierte sich für Literatur, und Anton überredete ihn, mit ihm gemeinsam die „Lesebühne“ im „Haus Leipzig“ zu besuchen. Offiziell hieß das Klubhaus „Zentraler Klub der Jugend und Sportler der Stadt Leipzig“, aber wenn man vom „Haus“ sprach, wußte jeder, was gemeint war. Ihr rumänischer Computer verfügte nur über einen etwas schwächlichen Lochbandleser. Damit sie Daten von 5,25-Zoll-Disketten, die von einem Bürocomputer kamen, einspeisen konnten, entwickelte Kaule ein Diskettenterminal, und Anton schrieb die dazugehörige Anwendungssoftware. Kaule war kein einfacher Mensch, und wegen seiner Starrköpfigkeit und Renitenz war er bei einigen Kollegen und beim Abteilungsleiter nicht besonders beliebt. Irgendwann, noch vor der Wende, kündigte er, um sich selbständig zu machen. Anton traf sich noch hin und wieder mit ihm, oder er besuchte ihn in seinem Haus in einem Vorort von Leipzig. Das Haus hatte er mit seinen eigenen Händen gebaut. Es verfügte über ein großes baumbestandenes Grundstück und er bewohnte es mit seiner Familie und seiner Mutter. Dann saßen sie unter Bäumen neben einem Ameisenhaufen in Campingsesseln, süffelten Bier, und diskutierten die neuesten Entwicklungen in Informatik, Kultur, Politik und Wirtschaft. Antons Kinder spielten mit Kaules Töchtern in einem Sandkasten, und die Kinder diskutierten mit großem Ernst die Vorzüge ihrer Väter. Die Ameisen marschierten emsig ihre Straße entlang. Ab und zu verirrte sich eine, und Anton zupfte sie vorsichtig von seinem Bein und setzte sie behutsam wieder ins Gras. Kaules Collie-Mischling durfte das verdorbene Bier der Vorwoche saufen, und wenn er betrunken war, taumelte er ein wenig zwischen den Kiefern umher, bis er sich endlich zu Kaules Füßen ausstreckte, um nach ein paar Rülpsern einzuschlafen. Kaules Ein-Mann-Betrieb lief gut, und Anton half ihm ab und zu bei der Buchhaltung. Mit der Wende und ihren Umbrüchen verloren sie sich aus den Augen.
Nachdem Anton Rentner geworden war, befiel ihn Wehmut und es überkam ihn ein seltsames Verlangen. Er beschaffte sich aus dem Internet die Telefonnummern ehemaliger Kolleginnen und Kollegen. Dann rief er sie an, und er erzählte allen, daß er nun endlich Rentner sei. Die Reaktionen waren unterschiedlich. Christa G., mit der er einmal ein Verhältnis gehabt hatte, ließ ihn ihr Desinteresse deutlich spüren, und Anton schimpfte sich einen Dummkopf. Nur Kaules Nummer konnte er nirgends finden. Zwar gab es einen Interneteintrag seiner Firma, aber als er die Nummer wählte, sagte eine Frauenstimme, daß die Rufnummer leider nicht verfügbar sei, er möge die Auskunft anrufen. Anton forschte weiter. Endlich fand er im Stadtzentrum von Leipzig einen Günter Kaulisch, Diplomingenieur.
„Hier Kaulisch.“
„Entschuldigen Sie die Störung. Ich suche einen ehemaligen Kollegen. Aber ich höre schon an Ihrer Stimme, daß Sie das nicht sein können, entschuldigen Sie bitte.“
„Ich komme aus der Polygraphie, wissen Sie.“
„Aha. Aber mein Kollege ist Elektroniker. Tut mir leid.“
„Ich habe 40 Jahre lang bei ‚Messe- und Musikaliendruck’ gearbeitet …“
„Interessant. Ich will sie nicht länger stören“, sagt Anton und legt schnell auf.
Kaules Stimme ist sonor und rauh gewesen, die Stimme des Polygraphieingenieurs klang hell und ein bißchen spitz. Mißmutig sucht Anton noch einmal nach Kaules Interneteintrag. „Parthenstraße 12“ steht da, und Anton schaut in den Stadtplan. Er studiert ihn lange und eingehend, und dann fällt ihm der Weg zu Kaules Haus wieder ein. Parthenstraße 12, das war die Adresse seines Wohnhauses, natürlich! Anton bemüht Google Earth. Aber was er sieht, stimmt mit seiner Erinnerung nicht überein. Kaules kleines Haus lag inmitten eines Grundstückes, das von Kiefern bestanden war, das Satellitenfoto dagegen zeigt ein großes Haus direkt an der Straße. Anton weiß, daß es Google Earth mit den Hausnummern nicht immer so genau nimmt, und daß sie manchmal Ländergrenzen mitten durch OP-Säle und über Kneipentheken legen. Anton beschließt, in die Parthenstraße zu fahren und selbst nachzusehen.
Es ist Montag, Antons fixer Termin beim „Wasserballett“. Er schindet sich wie immer, und nach dem Ende der Übungsstunde sitzt er zehn Minuten in seinem Auto, um sich auszuruhen. Die Parthenstraße liegt – mit einem größeren Schlenker – auf seinem Weg. Er fährt los, und er ist schneller in der Parthenstraße, als er gedacht hat. Es ist eine schmale Straße, Kopfsteinpflaster, Schlagloch an Schlagloch, und damals gab es noch nicht so viele Autos am Straßenrand. Die Grundstücke sind sehr verschieden. Manche strahlen satte Wohlhabenheit aus, andere wirken mit ihrem morbiden Charme wie ein Abgesang auf die untergegangene Republik, deren Kinder sie gewesen waren. Er findet die Nummer 14 und die Nummer 16, aber wo, zum Kuckuck, ist die Nummer 12? Anton parkt vor der Nummer 14. Er steigt aus und geht die Straße zurück. Dort, wo die Nummer 12 sein sollte, steht ein großes häßliches Haus am Rande des Grundstücks, wie er es bei Google Earth gesehen hat, aber es gibt keine Hausnummer und kein Namensschild, und Anton ist ein wenig ratlos. Er könnte klingeln oder klopfen, aber irgend etwas hält ihn davon ab. In der Nummer 14 kommt eine blonde Frau aus der Tür. Sie hantiert mit Gartenwerkzeugen und einem Abfalleimer. Dann geht sie auf die Straße und beginnt, den Weg vor ihrem Grundstück zu fegen. Anton spricht sie an.
„Guten Tag. Entschuldigen Sie. Ich suche die Nummer 12. Ist das jenes Grundstück?“ Und er zeigt auf das große häßliche Haus am Straßenrand.
„Aber ja“, sagt die blonde Frau.
„Es gibt keine Hausnummer und keinen Namen“, sagt Anton.
„Klopfen Sie doch einfach. Es ist sicher jemand zu Hause.“
Anton hat eine Idee.
„Wohnen Sie schon lange hier?“
„Ja …“
„Ich suche Günter Kaulisch. Ich bin ein ehemaliger Kollege …“
Über das Gesicht der Frau huscht ein Schatten.
„Der hat dort gewohnt“, sagt sie zögernd und sie zeigt auf das große häßlich Haus.
„Und jetzt?“
„Aber … er ist doch verstorben.“
„Oh. Wann war das?“ Anton spürt ein Würgen in der Kehle.
„Vor … fünf Jahren, Herzinfarkt, sagte man.“
Kaule war ein schlanker und zäher Typ. Anton will es nicht glauben.
„Zwei Jahre, nachdem seine Lebensgefährtin starb“, sagt die Frau.
„Seine Mutter ist zu ihrer Tochter nach Zella-Mehlis gezogen, soviel ich weiß.“
Anton hat die Lebensgefährtin nach Kaules Scheidung noch kennengelernt, und Kaules Mutter kannte er auch. Er bedankt sich, und er geht zu seinem Auto. Verstohlen wischt er sich Tränen aus den Augen. Er steigt ein, und nach ein paar Minuten startet er den Motor und fährt los.
Anton steigt die fünf Treppen zu seiner Wohnung hinauf. Er hängt seine nassen Badesachen auf die Leine. Er gibt die Reste eines Kartoffelgulaschs in eine Pfanne, und er schaltet die Herdplatte ein. Dann geht er zum Kühlschrank und gießt sich hundert Gramm Wodka in ein Glas. Er hebt es in Augenhöhe und sagt: „Prost, Kaule, wo immer Du bist.“ Dann trinkt er das Glas aus. Das hätte Kaule sicher gefallen. Er ißt seinen Kartoffelgulasch, dann gießt er noch einen Wodka ein und trinkt noch einmal auf Kaules Andenken.
Anton fühlt sich schlecht. Ein weiterer Wodka hilft auch nicht. Dann sucht er im Internet nach „kaulisch“ und „zella-mehlis“. Er möchte Genaueres wissen, und er findet drei Namen: Erna, Margot und Zita Kaulisch. Alle passen zur Altersstufe von Kaules Mutter. Zuerst ruft er Erna an.
„Hallo, hier Kauuulisch!“ Die Stimme ist laut und bestimmend.
Anton fragt sie, ob sie je in Leipzig-M. gewohnt habe.
„Nein. Aber ich war oft zur Messe in Leipzig“, sagt sie und sie kichert.
„Aha. Und warum?“ Anton ist verblüfft.
„Na, junger Mann, was glauben Sie wohl? Ich war Stammgast im Ring-Café!“ Sie kichert erneut.
Anton beginnt zu begreifen und er wird neugierig.
„Das kenne ich natürlich“, sagt er. „Kennen Sie auch die Deutschland-Bar?“ fragt er.
„Aber ja! Am besten aber war es im Ring-Café“, sagt sie.
„Hatten Sie nie Angst, an den Falschen zu geraten?“ Antons Neugier geht mit ihm durch.
„Eigentlich nicht“, sagt sie. „ Aber einmal hatte ich einen Herrn aus Königslutter, der wollte immer, daß ich schmutzige Wörter sage.“ Sie kichert wieder und Anton überlegt, was für Wörter man in der thüringischen Provinz für schmutzig halten könnte.
Anton verabschiedet sich und legt auf. Dann versucht er es mit Zita.
„Hier ist die Zita, und keine Kita.“
„Hä?
„Zita Kaulisch, was wollen Sie?“
„Mit Ihnen reden.“
„Na, reden Sie schon.“
„Schon mal in Leipzig gewohnt?“
„Klar. In der Hohen Straße.“
Anton ist verdattert, dort hat auch er als Junge und als junger Mann in der Nummer 35 gewohnt.
„In welcher Nummer?“ fragt er.
„In der 33“, sagt sie.
„Ach nee!“
„Was heißt hier ‚Ach nee’? Also, junger Mann, zur Sache.“
„Kennen Sie die Familie Markert?“ fragt er.
„Und ob!“ sagt sie. „Ich habe doch in der Druckerei gearbeitet, und der Alte wollte mir immer an die Wäsche!“
„Und, hatter’s geschafft?“
Sie grölt vor Lachen.
„War’n ganz schönes Arschloch! Nein, da wuselten doch ständig die Zwillinge herum. Die haben es immer verdorben.“ Und wieder lacht sie schallend.
Mit den Zwillingen ist Anton zehn Jahre lang zur Schule gegangen. Er entschuldigt sich und legt auf.
Anton überlegt, ob er noch Margot anrufen soll. Dann wählt er die Nummer und lauscht.
„Kaulisch.“ Die stimme ist leise, und sie klingt depressiv.
„Haben Sie je in Leipzig-M. gewohnt, in der Parthenstraße?“
„Ja.“
„In der Nummer 12?“
„Ja.“
„Ich bin ein ehemaliger Kollege Ihres Sohnes. Ihre Nachbarin aus der Nummer 14 hat es mir erzählt. Ich wollte Ihnen mein Mitgefühl aussprechen.“
Die Frau schluchzt.
„Sind Sie mit ihm zur Schule gegangen?“
„Nein, wir waren Kollegen. Im Kombinat für Bauwirtschaft.“
„Ach ja, dort an der Ecke.“
Anton stutzt. Dann erklärt er umständlich seine Beziehung zu Kaule, und er erklärt ihr, daß sie sich schon einmal kennengelernt hätten. Aber das interessiert sie nicht. Sie weint, und Anton ist fix und fertig. Er redet nur noch dummes Zeug, und dann legt er auf. Die Frau muß mindestens 85 Jahre alt sein, und sie trauert immer noch. Welches Recht hat er, sie beim Trauern zu stören? Er schämt sich, und er wünscht sich, daß er seine Neugier beherrscht hätte. Aber die Neugier ist eine von Antons hervorragenden Eigenschaften, und er kann nichts dafür. Er gießt sich noch einen Wodka ein und hebt das Glas wieder in Augenhöhe.
„Prost, Kaule, sollst leben!“
© April 2011