Jazz

Ein Feuilleton von Bernd Mai
mit Illustrationen von Dagmar Bolduan

In diesem Feuilleton geht es nicht um den Jazz als Musikstil, seine Entstehung, seine Geschichte und seine gesellschaftspolitische Bedeutung oder seine Stellung in der weiten, unübersehbaren Musiklandschaft der westlichen Zivilisation. Wer eine musikwissenschaftliche Abhandlung zu finden hofft oder musiktheoretische Betrachtungen, der wird enttäuscht sein. Zwangsläufig aber werden diese Aspekte in meinem Text hier und da eine gewisse Rolle spielen. Der Komponist und Musikwissenschaftler Andre Asriel hat zu diesem Thema ein fundiertes Buch geschrieben, das ich jedem Interessierten wärmstens empfehlen kann. (Anmerkungen am Ende des Textes.)

Meine älteste Musik-Erinnerung besteht darin, daß meine Mutter mir die erste Strophe eines Wiegenliedes vorsingt. In dem Lied kommt die Zeile vor „… morgen früh, wenn Gott will, wirst du wieder geweckt …“. Der liebe Gott spielte in meinem Leben keine Rolle, und ich verstand nicht, warum mein Wieder-Aufwachen vom Willen irgendeines merkwürdigen Wesens abhängen sollte, das ich nur aus Redensarten kannte. Ob jemand „Oh, Gott!“ und „Mein Gott!“ sagte oder „Oh, Küchenschrank!“ und „Meine Kaffeekanne!“ ist mir völlig gleichgültig gewesen. Meistens sagten wir aber „Meine Fresse!“, und mein Vater sagte manchmal „Heiliges Kanonenrohr!“. Meine Mutter hatte eine hübsche Singstimme, und es gibt Fotos von ihr, auf denen sie als junge Frau beim Spielen einer Mandoline zu sehen ist. Ich erinnere mich, daß das Instrument in der Abstellkammer unserer ersten Leipziger Wohnung in der Waldstraße an der Wand gehangen hatte. Am Heiligen Abend, wenn der Streß vorüber war, und wenn mein Vater mit einem Grog in seinem Sessel Platz genommen hatte, und wenn wir Kinder unser neues Spielzeug in Besitz nahmen, stimmte meine Mutter die bekannten Weihnachtslieder an. „Oh, du fröhliche, oh, du selige, Gnaden bringende Weihnachtszeit …“ und natürlich „Stille Nacht, heilige Nacht …“. Mein Vater war ein linientreuer SED-Genosse und darüberhinaus ein Atheist, aber auch er brummte manchmal die Lieder mit.

Am 1. Mai ging unser Vater mit uns Jungs zur Maidemonstration. Damals wurde im Zug noch gesungen. „Brüder, seht die rote Fahne …“, „Sozialisten, auf zum Streite …“, „Dem Morgenrot entgegen … „ und so weiter. Mein Vater kannte sie und all die anderen Kampflieder auswendig. Er hatte sie in den zwanziger Jahren als Jungsozialist und beim „Reichsbanner“ gelernt. Ich erinnere mich einmal krank gewesen zu sein. Ich lag in meinem Bett, und mein Vater bastelte an einem Ausschneidebogen-Modell der Wartburg herum, um mir Gesellschaft zu leisten, während meine Mutter das Sonntagsmittagessen zubereitete. Dabei sang er mir und sich zur Unterhaltung alle Arbeiterkampflieder vor, die er kannte, und manchmal wiederholte er sich. Dabei konnte er gar nicht singen. Es muß aber einen großen Eindruck auf mich gemacht haben. Wir wohnten in der Waldstraße auf dem Betriebsgelände eines zur Auto-Union gehörenden Kfz.-Reparaturbetriebes. (Es war noch vor der Gründung des Kombinates IFA, in dem all die mitteldeutschen Autobaufirmen aufgingen.) Mein Vater arbeitete dort als Lehrausbilder, und unsere Wohnung bestand aus einer kleinen Flucht von Zimmern, in denen vor dem Krieg die Fernfahrer übernachteten, während sie auf die Reparatur ihrer Laster warteten. In meiner Erinnerung ist der Betriebshof riesig, und die Lehrwerkstatt stand genau in der Mitte. Ich marschierte unter Absingen von „Brüder, seht die rote Fahne …“ mit einer roten Fahne über der Schulter, genau, wie ich es am 1. Mai gesehen haben muß, immer um die Lehrwerkstatt herum.Rote FahneDabei trug ich braune lange Strümpfe und ein Spielkittelchen mit einer Tasche am Bauch. In der Tasche pflegte ich in jenem Alter mein Milchfläschchen und meinen Teddy mit mir herumzutragen.

Irgendwann, am Anfang der fünfziger Jahre, zogen wir in die Hohe Straße in der Leipziger Südvorstadt. Der Bayerische Bahnhof und der große Leipziger Stadtpark, der später den Namen Clara Zetkins erhielt, lagen jeweils nur einige Querstraßen von unserer Wohnung entfernt. Dieser Umzug stellte aus heutiger Sicht für mich eine Zäsur dar, die mein Leben als behütetes Kleinkind von meinem neuen Leben als frei streifender Straßenjunge trennte. Aber hier verschwimmen die Konturen. Es kann so nicht gewesen sein, der Übergang war eher langsam und allmählich. Wir Kleineren waren ständig unter Aufsicht größerer Kinder. Besonders erinnere ich mich an die großen Schwestern meines Freundes D., der mit seiner Familie im Erdgeschoß unseres Hauses wohnte. Die Mädchen waren schon Backfische, und sie nahmen unseren Eltern einen Großteil der Erziehungsarbeit ab. Seine Schwester S. brachte mir später das Radfahren bei. Das Zimmer meines Freundes befand sich unter dem meinen. Manchmal, abends vor dem Einschlafen, konnte ich ihn holprig und stockend den „Flohwalzer“ auf dem Klavier üben hören. Das ist natürlich keine Jazznummer, und verjazzt kann ich ihn mir nur schwer vorstellen. Vielleicht aber klingt er als Ragtime-Stück ganz gut.

In unserem Haushalt gab es ein kleines Radio mit einem braunen Plastegehäuse, einen Zwergsuper, den mein Vater eines Tages, wir wohnten noch in der Waldstraße, mit nach Hause brachte.

Zwergsupe EAK 64/50

Zwergsuper EAK 64/50

(Foto: Norbert Tonko)

Der kleine Apparat wurde irgendwann durch einem größeren Super ersetzt. Er verfügte über eine Skalenbeleuchtung und ein sogenanntes magisches Auge, das die Sendereinstellung erleichtern sollte. Er hatte die Größe eines Westpaketes meiner Braunschweigischen Tanten zu Weihnachten.

RFT Dominante

RFT Dominante

(Foto: Andreas Reuther)

Oft saß die ganze Familie abends vor dem Radio. Meine Eltern achteten auf den Stromverbrauch, und so war es nur natürlich, daß keine Lampe brannte, wenn das beleuchtete Radio lief. Mein Vater lag auf dem Sofa, schnarchelte vor sich hin und schlief seinen Schwips aus. Meine Mutter saß im Sessel und sinnierte, wobei sie ihr Strickzeug im Schoß hielt. Wir Kinder saßen auf unbequemen Stühlen und lauschten. Diese Atmosphäre hatte etwas Magisch-Anheimelndes, und ich glaubte damals, das magische Auge hieße deshalb so. Hörspiele waren sehr beliebt, aber auch Musiksendungen von Radio DDR oder vom Berliner Rundfunk. Montagabends war es Pflicht, die Schlagerrevue mit Heinz Quermann zu hören. Auch andere Sendungen mit leichter Musik, Operettenmelodien oder Volksliedern hörte meine Mutter gern. War zufällig symphonische Musik zu hören, schnauzte mein Vater, man möge das Gedudel gefälligst abstellen.

Es war noch die Zeit, in der in der Rundfunkzeitung, in der DDR gab es nur eine, neben der Anfangszeit und dem Namen der Sendung die gespielten Musiktitel abgedruckt waren. Den Begriff Schlager kannte ich nicht. Ich nannte die gängigen Schlager, gesungen von Irma Baltuttis, Brigitte Rabald und Fred Frohberg, wegen der vor Herz und Schmerz triefenden Texte Liebeslieder. Einmal, ich war allein zu Hause und wollte Radio hören, nahm ich mir die Rundfunkzeitung vor, und als ich zur passenden Zeit eine Sendung entdeckte, die als „Liebeslieder“ ausgezeichnet war, war ich hocherfreut.

Rundfunkzeitung der DDR in den 50er Jahren

Ich setzte mich vor das Radio und wartete gespannt auf meinen Favoriten Fred Frohberg, den ich wegen seiner warmen Stimme besonders schätzte. Er hatte eine deutsche Version von „Sixteen Tons“ eingespielt, die ich sehr liebte. Die Sendung begann, und ich bekam das zu hören, was mein Vater gemeinhin Gedudel nannte. Ich hörte Lieder von Schubert, Schumann und Mahler – und ich war enttäuscht.

Als ich in die fünfte oder sechste Klasse ging, besaß ich eine Wasserpistole, ein Geschenk eines meiner Cousins aus dem Braunschweigischen. Er hatte sie anläßlich eines Besuches bei uns in seiner Jackentasche über die Grenze geschmuggelt. Ich war schwer beeindruckt, denn das war verboten! Ich tauschte das begehrte Spielzeug bei einem Mitschüler gegen ein Detektorradio ein. So etwas nannten wir gaubeln. Einen alten Kopfhörer, den noch der Wehrmachtsadler schmückte, ergaubelte ich mir von einem Spielgefährten aus meiner Straße für ein Gummimotor-Flugzeugmodell, dem das Fahrwerk fehlte. Von da an hatte ich mein eigenes Radio. Allerdings war die Freude ein wenig getrübt, denn mit dem primitiven Gerät konnte man nur die gängigen Sender des DDR-Rundfunks auf Mittelwelle empfangen. Aber was machte das schon? Ich konnte abends in meinem Bett liegen und bis spät in die Nacht hinein Radio hören. Die wirklich interessanten Sendungen kamen sowieso erst nachts. Eher zufällig hörte ich eines Tages die Sendung Jazzpanorama vom Deutschlandsender, die von Karlheinz Drechsel moderiert wurde. Sie wurde um dreiundzwanzig Uhr ausgestrahlt und dauerte dreißig Minuten. So etwas hatte ich noch nie gehört!

Die fremde Musik mit ihren harten Rhythmen, den freien Improvisationen und der an Blasmusik erinnernden Instrumentierung, die mal heiß und schnell und mal getragen und traurig daher kam, berührte mich tief, und ich war fürderhin bemüht, keine Sendung zu verpassen.

Karl-Heinz Drechsel - Dr. Jazz

Karl-Heinz Drechsel - Dr. Jazz

Ich hatte meine Musik gefunden, und Dr. Jazz, so wurde Drechsel auch genannt, der die Stücke kenntnisreich und klug kommentierte, hatte mir ein Kämmerlein geöffnet, in das ich mich später oft zurückziehen konnte, um mich von der Welt, wie sie war, zu erholen.

Die große Familie meines Freundes hatte eine größere Wohnung im Haus gegenüber gefunden. Dadurch kam D. in den Genuß eines eigenen Zimmers. In dieser Familie war manches anders als bei uns. Herrn B. wäre es mit Sicherheit nie eingefallen, symphonische Musik als Gedudel zu bezeichnen. Während mein Vater uns das Abhören von Westsendern strikt verboten hatte, kümmerte sich in der Familie B. niemand darum. Ich verbrachte manchen Nachmittag in der Wohnung meines Freundes, und wir hörten Radio Luxemburg auf Kurzwelle im 49-m-Band. Das Rattern und Schnattern, das Pfeifen und Jaulen der Störungen konnte uns nichts anhaben. War die Großwetterlage günstig, war der Empfang einigermaßen zufriedenstellend. Die Magazinsendungen der Station wurden, ganz wie heute, regelmäßig durch Werbespots unterbrochen. Aber das störte uns nicht. Wenn die warme Stimme von Camillo Felgen die Hitparade ansagte, saßen Frau B., meine Freund D. und ich vor dem Radio, und wir lauschten. Mein Freunde und Mitschüler konnten mit meiner Vorliebe für Jazz nichts anfangen. In diesem Alter war ich selbst der einzige Mensch, den ich kannte und der sich für diese Musik interessierte. Unabhängig von unserer Vorliebe für Schlager-Schnulzen verschaffte mir mein Freund die erste wirkliche Begegnung mit symphonischer Musik. Familie B. hatte sich einen Plattenspieler angeschafft. Eines Tages lud D. mich ein, die „Moldau“ von Smetana von einer ETERNA-Schallplatte anzuhören. Ich willigte zögernd ein, vielleicht könnten wir ja nach dem Gedudel noch ein wenig die Fröhlichen Wellen hören, und ich harrte der Dinge, die da kommen sollten. Mein Freund setzte den Plattenspieler in Gang, und ich nahm die Plattenhülle, um irgend etwas zu lesen zu haben. Was ich auf der Rückseite der Plattenhülle las, war aber so interessant, daß ich meinen Freund nach dem Ende des Werkes bat, es mir noch einmal vorzuspielen. Ich lauschte und versuchte, die Stationen von Smetanas Reise die Moldau hinab bis zu Mündung am Begleittext der Platte nachzuvollziehen. Der Jazz war für mich wegen der abstrusen Schlagermusik von Radio Luxemburg ein wenig in den Hintergrund getreten, aber ich hatte eine neue musikalische Zuneigung gefunden.

Als ich Schüler der Oberstufe war, hatte ich eine Brieffreundin. Sie hieß Jelena Knyrik und lebte in Tschernigow (Чернігів) in der Ukraine. Ihrer Herkunft nach war sie eine Russin aus Sibirien, und darauf war sie sehr stolz. Sie war ein schönes Mädchen mit einem ebenmäßigen, ovalen Gesicht, großen ausdrucksstarken Augen und dunklem, langem Haar, das sie zu einem dicken Zopf geflochten trug. Wir tauschten regelmäßig über viele Jahre hinweg Luftpostbriefe, Schwarzweißfotos und kleine Geschenke aus. Ihre Mutter, die Deutschlehrerin war, übermittelte meiner Mutter jedes Jahr zum Internationalen Frauentag herzliche Grüße mit einer in altertümlichem Deutsch verfaßten Glückwunschkarte. Mein Freund D. hatte ebenfalls eine Brieffreundin. Sie hieß Pauline Carpenter, lebte in Maryland (USA) und gehörte der weißen Mittelschicht an. Mein Freund las mir manchmal ihre Briefe auszugsweise vor. Ich erinnere mich, daß ich mich über die lange Liste ihrer Geburtstagsgeschenke amüsierte. Ihn hat diese Liste jedoch sehr beeindruckt. Ab und zu schenkte sie meinem Freund eine Single-Schallplatte, die er mir umgehend vorspielte. So lernte ich Trini Lopez und seine Aufnahme von „Guantanamera“ kennen, die mir sehr gefiel. Juan Garcia Díaz, ein kubanischer Student, der bei der Nachbarsfamilie zur Untermiete wohnte, wurde sehr böse, als er einmal bei einem unserer Plattennachmittage zugegen war, und mein Freund die Platte abspielte. Sein Deutsch war aber zu schlecht, als daß er uns vernünftig zu erklären vermochte, warum. Auch die anderen Interpreten der Platten, die mein Freund geschenkt bekam, übten auf mich einen starken Reiz aus: ein dicker schwarzer Kerl namens Fats Domino, ein anderer dicker schwarzer Bursche namens Chubby Checker, Peggy March, die damals noch „Little“ Peggy March hieß, Sonny and Cher und einige andere, die vollständige Liste wäre lang.

Chubby Ckecker - The King Of Twist

Chubby Ckecker - The King Of Twist

Eines Tages schenkte Pauline ihm eine Langspielplatte mit dem Titel “A Tribute To Glenn Miller“. Ich hatte keine Ahnung, wer Glenn Miller gewesen war, und warum man ihn zu verehren hätte. Herr B. knurrte verächtlich „Negermusik!“ und verließ das Wohnzimmer, um sich mit seiner Zeitung und seiner Zigarre ins Herrenzimmer zurückzuziehen. Diese Musik ließ mich kalt, vielleicht, weil ich sie für eine Art Militärmusik hielt. D.’s großer Bruder kam mit seiner neuen Freundin hinzu, und das Paar begann nach der Musik Boogie zu tanzen, wir nannten das hotten, und D.s Bruder klärte uns unwissende Jüngelchen über Glenn Miller und den Big-Band-Stil auf. Das machte mir die Platte nicht schmackhafter, aber seitdem weiß ich, daß auf des Herrgotts großer Jazz-Weide viele seltsamer Rindviecher grasen. Ich wußte damals noch nicht, wie viele Varianten und Stile des Jazz es gibt, für mich waren Jazz und Dixieland ein und das selbe. Ich konnte in diesem Alter auch nicht wissen, daß sich ein Geschmack entwickeln und verändern kann.

Und dann kamen die Beatles

Ihr Stücke „I Want To Hold Your Hand“ und „She Loves You“ wurden natürlich auch auf Radio Luxemburg gespielt. Ich erinnere mich, daß ich die Begeisterung meiner Altersgenossen für diese Musik nicht nachzuvollziehen vermochte. Als Camillo Felgen sich während einer Moderation einmal sehr zurückhaltend – eher ablehnend – zum Phänomen Beatmusik äußerte, gab ich ihm recht. Es war nicht etwa so, daß ich diese Musik in Bausch und Bogen ablehnte. Es gab auch Stücke, die mir gefielen, und zum Tanzen war sie sowieso besser geeignet als der Jazz, und selbst als der Boogie, dessen Tanzfiguren mir zu kompliziert waren. „Come on, let’s twist again …“ lautete in jener Zeit die Devise auf den Tanzböden.

Mein erstes Jazz-Konzert erlebte ich in Rostock im Kulturhaus der Neptun-Werft. Es war im Sommer 1969, und ich arbeitete als Schlosser im Fischkombinat. Ich war gerade von der Armee entlassen worden, war zwanzig Jahre alt, war frei und ledig, verdiente Geld, und ich hatte keinen Lebensplan. Als ich ein Plakat sah, auf dem ein Konzert mit Kenny Ball And His Jazzmen angekündigt wurde, wußte ich: Da mußt du hin! Ich kaufte mir eine Eintrittskarte, zog meinen guten Anzug an und marschierte abends gegen neunzehn Uhr zum Kulturhaus in die Werftstraße. Der große Saal war rappelvoll. Ich habe später noch oft rappelvolle Säle erlebt, aber das war der erste. Und was ich gar nicht glauben wollte: Den Musikern gelang es, die zurückhaltenden und sturen Mecklenburger zu Begeisterungsstürmen hinzureißen!

Sie mußten Zugabe um Zugabe spielen, und auf dem Heimweg – ich wohnte im Haus der Hochseefischer – summte ich die populärsten Stücke vor mich hin. In der Straßenbahn wurde ich angeglotzt wie einer vom anderen Stern. Im Herbst des selben Jahres kehrte ich in meine Heimatstadt zurück. Ich stattete mein Zimmer mit ein paar neuen Möbeln aus und kaufte mir ein Radio und einen Ziphona-Plattenspieler mit eigenem Mono-Verstärker (siehe Foto unten).

Ziphona-Plattenspieler

Ziphona-Plattenspieler; ich besaß ein Gerät des selben Modells.

Ich frequentierte alle Plattenläden und legte mir nach und nach eine kleine Sammlung von Dixieland-Langspielplatten zu. Dank des polnischen und des tschechischen Ladens in der Leipziger Innenstadt war die Auswahl nicht gering, und AMIGA produzierte solche großartigen LPs wie „Jazz und Lyrik“ und „Lyrik – Jazz – Prosa“. Das kam meinem Interesse für Literatur entgegen, und so kam ich zu den legendären Aufnahmen von „Die Kuh im Propeller“ mit Manfred Krug und „Der Hase im Rausch“ mit Eberhard Esche. Aber die Zeit schreitet fort. Die solide nette, kleine Plattensammlung hat die Wechselfälle meines Lebens nicht überstanden. Mein Musikgeschmack hat sich gewandelt. Die Jazz-Heroen von ehedem sind Greise geworden. Die allgemeine Vorstellung, was Jazz zu sein hat, hat sich geändert. Des Herrgotts große Jazz-Weide hat sich zu einem riesigen Spielplatz entwickelt.

Aber er ist am Leben, der Jazz, wie immer er sich auch gibt, und die Jazz-Greise sind immer noch mächtig kregel, wie ich vor Kurzem erst feststellen konnte.

* * *

Anmerkungen:

AMIGA –
Label des VEB Deutsche Schallplatten, auf dem sogenannte „U-Musik“ veröffentlicht wurde.

Andre Asriel –
Komponist und Musikwissenschaftler, * 1922 in Wien; Autor des Buches „Jazz – Analysen und Aspekte“, VEB Lied der Zeit, Berlin 1966 u. 1985.

Backfisch
– Damals (d. i. Anf. der 50er Jahre) noch Bezeichnung für junge, halbwüchsige Mädchen, Teenager; vielleicht wollten alte, lüsterne Säcke die Begriffe „lecker“ und „knusprig“ damit umschreiben.

Clara Zetkin
– Clara Josephine Zetkin, geb. Eißner (1857 – 1933); sozialistische deutsche Politikerin, Friedensaktivistin und Frauenrechtlerin.

Detektorradio
– Diese Radioempfänger war in den Anfangstagen des Rundfunks die einfachsten Geräte zum Empfang von Hörfunk. Sie bestanden aus nur wenigen Bauteilen und konnten ohne eigene Stromquelle arbeiten. Nach dem Krieg kamen sie für kurze Zeit wegen der fehlenden Ressourcen eine Zeit lang wieder in Mode. Zum Empfang der Mittelwelle genügte eine Wurfantenne, die man erden mußte. Wir schlossen die „Erde“ an unseren Badeofen an …


Deutschlandsender
– Rundfunkstation der DDR, die sich besonders an Hörer in Westdeutschland richtete; wurde 1971 in „Stimme der DDR“ umbenannt und international breit aufgestellt.

Dixieland
– Gemeint ist eigentlich der New Orleans Jazz; frühe Stilrichtung des Jazz (etwa 1890 – 1928);er zeichnet sich besonders durch Gruppenimprovisation und eine typische Instrumentierung (Bläser [Trompete u./o. Kornett, Posaune, Klarinette] und Rhythmusgruppe [Schlagzeug, Banjo, Kontrabaß, Klavier]) aus; Louis „Satchmo“ Armstrong gilt als der wichtigste Vertreter dieses Stils.

ETERNA
– Label des VEB Deutsche Schallplatten, auf dem sogenannte „Ernste Musik“ veröffentlicht wurde.

Glenn Miller
– Alton Glenn Miller (1904 – 1944); US-amerikanischer Jazz-Posaunist, Bandleader, Komponist und Arrangeur; machte sich einen Namen als Leader des „Army Air Force Orchestra“; erneuerte die Militärmusik der US-Army, wenn man dem einschlägigen Spielfilm glauben darf.

Grenze
– Gemeint ist die innerdeutsche Grenze zwischen der BRD und der DDR; auch Zonengrenze und Staatsgrenze genannt.

Ragtime
– Vorläufer des Jazz; meist auf dem Klavier mit freizügiger Synkopierung in der Melodie gespielt.

Reichsbanner
– Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold; überparteiliche, der Sozialdemokratie nahestehende und von der SPD dominierte Wehrorganisation zum Schutz der Republik gegen innere Feinde nach dem ersten Weltkrieg.

Super, Größerer
– wahrscheinlich ein frühes Modell der RFT Dominante (siehe Foto oben).

Trini Lopez
– US-amerikanischer Sänger kubanischer Abstammung; Juan García war ein leidenschaftlicher Anhänger Castros, für ihn waren alle in den USA lebenden Kubaner Konterrevolutionäre.

Wiegenlied
– „Guten Abend, Gut‘ Nacht“; Johannes Brahms, op. 49, Nr. 4 (1868); er schrieb es für die Kinder von Clara Schumann, als er sich nach dem Tod von Robert Schumann um die Witwe und die Waisen kümmerte; im Web fand ich ein Portal, in dem diskutiert wurde, ob es sich wirklich um ein Wiegenlied oder eher um eine Kindertotenklage handelt – interessanter Aspekt.

Zwergsuper
– EAK Super 64/50 GW PS (siehe Foto oben); das Gerät hatte die Größe eines Kofferradios und das Gehäuse war aus Bakelit, es wurde 1950/1951 produziert, verfügte über drei Röhren und kostete 237,00 DM (Ost), damals ein stolzer Preis.

© Text: Bernd Mai September 2013 Leipzig & Wettin-Löbejün
© Grafik: Dagmar Bolduan 2013 Ekeren (B)

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