Anton und der Osterhase

von Bernd Mai

Es ist der Samstag vor Ostern. Anton und Bettina sind bei Bettinas Sohn Daniel und seiner Familie. Sie wohnen in dem Haus, in dem Bettina den größten Teil ihres Lebens verbracht hat. In einem kleinen Dorf, in dem es nicht einmal eine Kirche gibt, nur eine winzige Kapelle auf dem Friedhof. Bettina will für ihre Enkel Felix und Moritz Eier und Süßigkeiten verstecken, den Ostersonntag wird die junge Familie bei den Schwiegereltern verbringen. Noch halten die Kinder Mittagsschlaf, und Bettina streift mit ihrem Korb, in dem sie die Geschenke transportiert hat, durch den Garten. Sie legt hierhin ein buntes Ei und dorthin ein Schokoladentäfelchen. Einen Schokoladenosterhasen hängt sie in die Wäschespinne, und Anton verzieht das Gesicht.
„Oma, Oma! Was hast du in dem Korb?“
Die Kinder kommen aus der Tür gestürmt und springen auf Bettina los, aber Bettinas Korb ist schon leer, sie hat alles versteckt. Dann gibt es Kaffee und Kuchen, den Kuchen hat Bettina gebacken.

Daniels Frau Kerstin bringt den Kaffee. Bettina hat den Kuchen verteilt und auch Anton ein großes Stück auf den Teller gelegt. Anton runzelt die Stirn, er sagt aber nichts. Während Bettina den Kaffee einschenkt, plaudert sie munter drauflos. Kerstin sitzt an ihrem Platz und beobachtet mit eisigem Blick die Schwiegermutter. Daniel erklärt seinen Kindern, daß der Osterhase schon heute kommen müsse, weil er an einem einzigen Tag gar nicht alle Eier und die vielen Süßigkeiten unter die Kinder bringen könne. Moritz, der Kleine, hört mit offenem Mund zu und staunt. Bettina unterbricht ihren Sohn und erzählt, daß sie heute Morgen den Osterhasen schon gesehen habe. Er wäre gerade um die Ecke geflitzt, und die Oma hätte nur noch sein weißes Schwänzchen gesehen. Felix, der Große, geht in die erste Klasse. Er hört interessiert zu und lächelt verlegen. Ab und zu schielt er zu Anton hinüber. Der nickt mit dem Kopf, als könne er alles bestätigen. Dabei macht er ein ernstes Gesicht.
„Wie groß sind die Schokohasen?“ will Moritz wissen.
„So groß“, sagt Felix und zeigt mit den Fingern die Länge eines Kaffeelöffels.
„Sooo groß müßten sie sein!“ ruft Moritz und zeigt die Größe des dicksten ihrer Zwergkaninchen.
„Nee, sooo groß!“ ruft Felix, und er breitet die Arme aus. Dabei stößt er die Kaffeekanne um. Bettina unterdrückt einen Aufschrei. Kerstin läuft zornesrot an. Sie springt auf, geht in die Küche und kommt mit einem Lappen und Küchenpapier zurück. Anton nimmt sein Geschirr und hält es in die Höhe, damit man die Tischdecke abnehmen kann. Wortlos macht sich Kerstin ans Säubern des Tisches, während Bettina die Tischdecke zusammenlegt und wegbringt.
„Die schöne Decke!“ jammert sie. „Die ist doch noch von der Oma!“ Sie meint ihre eigene Schwiegermutter. Die Decke ist mit Häschen, bunten Eiern und Frühlingsblumen bestickt.
„Mensch, Mutter, ist doch bloß ’ne Tischdecke!“ sagt Daniel laut und ärgerlich.

Kerstin ordnet das Geschirr, dieses Mal auf der nackten Tischplatte, und schweigt. Anton beobachtet sie, ihr Gesicht zeigt keine Regung. Felix guckt erschrocken, auch er ist stumm. Nur der Kleine plappert munter weiter. Er ist vier, und er versteht die Aufregung nicht. Anton legt Felix die Hand auf die Schulter, und der Junge sieht ihn an. Anton zwinkert ihm zu. Anton zwinkert noch einmal, und der Junge grinst verschämt. Sie essen weiter. Bettina setzt in der Küche erneut Kaffee an. Als sie zurück ist, will sie weiter lamentieren.
„Ein toller Kuchen!“ unterbricht Anton sie und hebt die Stimme. „Der ist dir wirklich prima gelungen!“ Dabei schaut er Bettina eindringlich an. „Stimmts?“ fragt er und schaut in die Runde.
„Stimmt!“ ruft Moritz und schiebt sich eine Portion Quarkcreme in den Mund. Sein Kinn und seine Nase sind über und über mit Creme beschmiert. Er kratzt sie systematisch vom Biskuitboden ab und ißt sie auf. Den Boden läßt er liegen. Dann springt er auf, er will endlich Eier suchen. Seine Mutter kann ihn gerade noch erwischen, um sein Gesicht zu säubern. Das ist das Signal. Alle stehen auf und gehen in den Garten. Anton bleibt sitzen. Dieses Mal ist es nicht der Rücken. Dieses Mal ist es das Bein.

Als alle im Garten sind, steht Anton auf und geht zum Fenster. Das Wohnzimmer liegt im Obergeschoß, und Anton kann den Hof und den größten Teil des angrenzenden Gartens übersehen. Hinter der Garage, am Ende des Hofes, befindet sich eine kleine Terrasse, auf der Gartenmöbel stehen. Daniel und Kerstin sitzen auf Gartenstühlen und rauchen. Bettina wuselt mit den Kindern durch den Garten. Felix findet ein buntes Ei im Gehege der Zwergkaninchen. Er hält es jubelnd in die Höhe. Der Kleine zieht eine Flunsch. Er ist beim Suchen nicht besonders kreativ, und er folgt seinem Bruder auf Schritt und Tritt wie ein Schatten. Manchmal ist er schneller und schnappt Felix den Fund vor der Nase weg. Dann gibt es Streit, den Bettina geschickt zu schlichten weiß. Anton beobachtet Daniel und Kerstin. Daniel sagt etwas. Dabei sieht er seine Frau nicht an. Die schweigt. Nach einer Weile erwidert sie etwas. Wegen der Entfernung und wegen des geschlossenen Fensters kann Anton nicht verstehen, was gesprochen wird. Daniel springt auf und wirft heftig seine Kippe auf den Boden. Dann geht er in den Garten zu Bettina und den Kindern. Anton wendet sich vom Fenster ab. Dann nimmt er ein paar Geschirrteile vom Tisch und bringt sie in die Küche. Die Kinder kommen die Stiege heraufgepoltert.
„Anton, Anton“, ruft Felix. „Guck mal, was ich alles gefunden habe!“ Dabei hält er Anton ein Körbchen, gefüllt mit bunten Eiern und Süßigkeiten, unter die Nase. Bettina hat genügend Naschwerk besorgt. Der Kleine hat sich mit seinem Körbchen ins Wohnzimmer verzogen und wickelt einen Schokoladenhasen aus. Der Hase hat tatsächlich beinahe die Größe eines Zwergkaninchens.

Anton hat beim Bemalen der Eier geholfen. Eins hat er im Stil Kandinskys bemalt, darauf ist er besonders stolz. Als er ein zweites mit einer vollbusigen nackten Frau bemalen will, hat Bettina es ihm verboten. Anton hat es später heimlich doch getan und das Akt-Ei unter die übrigen Eier geschmuggelt. Anton muß lächeln, als er es in Felix Körbchen entdeckt.
„Duuu, Antooon“, sagt Felix langsam. Er schaut Anton verschwörerisch an.
„Jaaa“, sagt Anton. Er ist gespannt.
„Ich weiß, daß es den Osterhasen gar nicht gibt“, sagt Felix leise. Er grinst. Der Kleine ist mit seinem Schokoladenosterhasen beschäftigt.
„Hm“, brummt Anton. „Manche sagen so, andere sagen so.“ Er weiß nicht weiter. Dann bedeutet er dem Jungen entschlossen, näher zu kommen. Er beugt sich zu Felix hinab.
„Den Weihnachtsmann gibt es auch nicht“, flüstert er. Dann legt er den rechten Zeigefinger auf die Lippen und deutet mit der linken Hand auf Moritz, der mit sich und der Welt im Reinen an seinem Osterhasen lutscht. Seine Hände und das halbe Gesicht sind mit Schokolade beschmiert.
„Was habt ihr zu tuscheln?“ will Bettina wissen. Sie ist unbemerkt hinzugetreten.
Anton legt wieder den Zeigefinger auf die Lippen und schaut seinen Mitverschworenen eindringlich an.
„Wir haben über das zeitgemäße Bemalen von Ostereiern diskutiert“, sagt er dann.
„Du Spinner!“

Kerstin räumt in der Küche das Geschirr in die Spülmaschine. Anton und Bettina verabschieden sich.
„Ja, tschüß“, sagt Kerstin einsilbig.
Auf dem Hof rufen sie Daniel einen Gruß zu. Er sitzt auf der Terrasse und raucht. In der rechten Hand hält er eine Flasche Bier, aus der er ab und zu einen Schluck nimmt. Er hat den Gruß nicht gehört. Anton läßt die Hoftür absichtlich laut ins Schloß fallen.

Auf dem Heimweg müssen sie an einer Baustellenampel warten. Sie schweigen. Schließlich räuspert sich Bettina.
„Hast du gesehen?“ fragt sie.
„Was?“
„Sie trägt ihren Ring nicht mehr.“
Anton brummt etwas unverständliches. Die Ampel schaltet nach einer endlosen Rotphase auf Grün, und sie fahren weiter.

© Bernd Mai, Leipzig, Juni 2014

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