Mein Name ist Abakus

Mein Name ist Abakus

Essay über einen Deko-Gegenstand

von Bernd Mai

Mein Name ist Abakus, und ich bin ein Anachronismus. Meine Vorfahren erleichterten schon vor 3.000 Jahren den Menschen das Rechnen. Meine Nachfahren, die mechanischen Rechenmaschinen, gibt es erst seit vierhundert Jahren, und meine Ur-Ur-Enkel, die Computer, sogar erst seit lächerlichen achtzig. Seitdem führen wir fast unbeachtet ein Schattendasein als Kinderspielzeug. Und weil kein Mensch mehr weiß, wie man uns benutzt, machen die Gören uns immer kaputt! Sie schieben die Kugeln mit Schwung hin und her, weil das so schön klappert, und wenn sie trotzdem keine Aufmerksamkeit bekommen, dann werden wir demoliert. Dabei hörte ich aus sicherer Quelle, daß in einer Stadt namens Moskau meine Verwandten noch zu Zeiten meiner Geburt im Einzelhandel die Beträge zusammenrechneten. Mir jedoch war ein anderes Schicksal bestimmt.

Hergestellt wurde ich in den siebziger Jahren in einem kleinen Betrieb in Sonneberg, in einem Land, das es nicht mehr gibt. In dem Betrieb fertigten fleißige Werktätige Zubehör für Spielzeug aus Holz. Weil es das Politbüro so beschlossen hatte, bauten sie auch mich und meine Abaki-Brüder, denn die Bewohner des Landes konnten nicht rechnen. Hätten sie es gekonnt, gäbe es dieses Land vielleicht noch. Man baute mich solide und stabil aus Holz, Plaste und Stahldraht, das Design ist schlicht und geradeaus, ohne Firlefanz und Extras. Das Holz meines Rahmens wurde geschliffen und mit einer Lasur behandelt. Nach der Endkontrolle stempelte eine dicke Frau meinen Preis mit dokumentenechter Stempelfarbe für immer und ewig auf die linke Seite meines Rahmens. Ich kostete fünf Mark fünfundsiebzig. Die Schrift ist groß und deutlich, und auch für jemanden, der nicht rechnen kann, ist sie gut zu lesen. Dann wurde ich gemeinsam mit meinen Brüdern in einen Karton gepackt und auf die Reise geschickt.

Hier sind der Preis und das Inventarschild zu sehen, eine Inventarnummer hat er leider nicht.


Meine Reise endete in einem großen Spielzeuggeschäft in der Grimmaischen Straße im Zentrum der Stadt Leipzig. Ich wurde ausgepackt und in ein Regal gestellt. Die Grimmaische Straße ist eine belebte Fußgängerzone. Sie führt vom Augustusplatz, der damals noch Karl-Marx-Platz hieß, am Naschmarkt und an vielen Geschäften, Bürohäusern und an den Messehäusern vorbei zum Markt, dem Herzen der Messestadt. Jeder Leipziger, der einen größeren Einkauf zu machen hatte, begab sich in das Stadtzentrum. Man sagte: „Ich gehe in die Stadt“. Außer vielen Fachgeschäften fand man dort zwei Kaufhäuser, auch zwei Intershops für die ‚Messeonkels‘, das Messeamt, mehrere Kinos und Theater, Behörden, eine große Zahl von Restaurants, ganz gewöhnliche Wohnungen und Büros, Büros, Büros … Man war froh, daß man einen zentralen Ort hatte, an dem man alles kaufen konnte, was man gerade benötigte. Wenn es denn zu kaufen gab, was man benötigte. Manchmal kaufte man auch Dinge, die man nicht benötigte, um sie als Tauschäquivalent zu nutzen. Am Markt, in der Nummer acht, residierte das „Kombinat für Baureparaturen Leipzig“, ein großer kommunaler Baubetrieb. Das Gebäudeensemble „Markt 8“ stand unter Denkmalsschutz, und es war marode und heruntergekommen wie das Land selbst. Vielleicht hoffte man, daß das Kombinat eigene Anstrengungen zur Erhaltung unternehmen würde. Ein großer Teil der Verwaltung hatte seine Büros in dem verwinkelten und weitläufigen Gebäudekomplex. Obwohl die Verwaltung eines Betriebes mit 2.000 Beschäftigten nicht gerade klein war, gab es überall noch ungenutzte Räume. Einem Unkundigen hätte man abgeraten, allein nach der Abteilung XYZ suchen zu wollen. Er hätte sich verlaufen.

Die ersten Tage im Spielzeuggeschäft waren aufregend und interessant. So viele Menschen, so viele Kinder! Aber sie interessierten sich für Indianer und NVA-Soldaten aus Masse und Plaste, für ferngesteuerte T-54-Panzer und Planierraupen, für Puppen und Teddys, für Modelleisenbahnen und PIKO-Waschmaschinen, für VERO-Baukästen und Puppenhäuser, nur nicht für mich, den Abakus. Nur manchmal blieben ältere Leute stehen und nahmen mich aus dem Regal, um mich zu begutachten. Kopfschüttelnd oder lachend stellten sie mich wieder zurück. Ich gewöhnte mich an das Gewusel und es wurde langweilig. Ab und zu wurde ich abgestaubt oder umgestellt. Die Tage vergingen einer wie der andere. Dann jedoch kam eine Frau, nahm mich aus dem Regal und ging zur Kasse. Sie bezahlte meinen Preis und verließ mit mir das Geschäft. Die Frau war weder schön noch häßlich, sie war mittleren Alters, von kräftiger Statur, und sie trug eine Brille. Sie steckte mich in ein großes Einkaufsnetz, in dem sich schon eine Reihe von Flaschen und Tüten mit Backwaren befanden und lief behende wie ein junges Mädchen Richtung Markt davon. Vor dem Gebäude mit der Nummer acht blieb sie kurz stehen, um mit einer anderen Frau zu schwatzen, die ebenfalls ein volles Einkaufsnetz mit sich herumtrug. Dann stieg sie hinauf in den ersten Stock und öffnete eine Tür. In einem großen Raum saßen etliche Leute um einen langen Tisch versammelt, vor den meisten standen gefüllte Kaffeetassen, und alle waren sie sehr vergnügt. Sie begrüßten die Frau, die mich gekauft hatte, mit großem Hallo und ein paar von ihnen standen auf, um aus einem Nebenraum Teller und Gläser zu holen. Die Backwaren wurden verteilt, die Flaschen geöffnet, die Gläser gefüllt und man wünschte der Frau, die mich gekauft hatte, einen schönen Urlaub. Man aß und trank, man erzählte sich Witze und Anekdoten. Dann stand die Frau, die mich gekauft hatte, auf. „Ruhe mal“, verschaffte sie sich Gehör. Die Gespräche verstummten. Sie nahm mich aus dem Netz und hielt mich in die Höhe. „Und das, liebe Kollegen, ist in Zukunft unser Ersatzrechner, wenn der C8205 mal wieder kaputt ist.“ Die anderen lachten und klatschten Beifall. Die Frau, die mich gekauft hatte, stellt mich am Ende der Tafel deutlich sichtbar für jedermann ab und setzte sich wieder. Die Urlaubsrunde dauerte fort, und als die Getränke zur Neige gingen, begann einige der Leute in ihren Portemonnaies zu kramen und ein wenig Geld auf den Tisch zu legen. Ein junger Mann nahm es an sich und zählte es ab. „Es reicht!“ sagte er endlich, nahm das Netz der Frau, die mich gekauft hatte, und verschwand. Nach kurzer Zeit kam er zurück und stellte eine Flasche mit hochprozentigem Alkohol und ein paar Flaschen Vita-Cola auf den Tisch. Wieder wurden die Getränke verteilt, es wurde geprostet und wieder wurden gute Urlaubswünsche ausgebracht. Nach und nach verabschiedeten sich die Leute. Die Frau, die mich gekauft hatte, sah auf die Uhr. Auch sie verabschiedete sich und verließ die Runde. Mich nahm sie mit. In einem Raum, in dem ein paar Maschinen herumstanden, die ich leicht als meine Nachfahren erkennen konnte. Sie stellte sie mich auf einen fast mannshohen Stahlschrank und rückte mich zurecht. Sie trat ein paar Schritte zurück und begutachtete ihr Werk. Dann nickte sie zufrieden. Sie löschte das Licht, schloß die Tür und verschwand. So begann mein Leben als Maskottchen einer Rechenstation.

Dieser Abakus ist ein Deko-Gegenstand mit Geschichte.

Der Stahlschrank, auf dem ich stand, enthielt Programmunterlagen. Die Frau, die mich gekauft hatte, und ihre Mitarbeiterinnen gingen wenigstens einmal täglich an den Schrank, zogen einen Einschub heraus und entnahmen ihm Ordner mit den Anweisungen zur Programmbedienung. Die ersten Wochen traf mich oft ein Blick der Beachtung, und manchmal nahm mich jemand herab, um ein bißchen mit meinen Perlen zu klappern. Besonders, wenn der Rechner defekt war, und sie nicht arbeiten konnten. Der Rechner, er war einer der zweiten Generation, war oft defekt. Der Hauptspeicher und die Zusatzspeicher waren als Magnettrommeln ausgeführt, und wenigstens einmal im Monat mußten ROBOTRON-Monteure kommen, um sie neu einzumessen und ihre Drehzahl abzustimmen. Aus einem anderen Schrank entnahmen die Frauen die großen und kleinen Lochbandrollen mit den Stammdaten und den Bewegungsdaten. Und dann begann das endlose Schnurren und Rattern der Lochbandleser und Lochbandstanzer. Am Bedienpaneel des Rechners flackerten die Lämpchen, und man konnte ihm beim Rechnen zusehen. Manchmal zerrissen die Lochbänder, und sie mußten mit einer speziellen Vorrichtung wieder zusammengeklebt werden. Und wieder war das alles für mich am Anfang sehr aufregend und interessant. Allmählich lernte ich, die Bedienerinnen zu unterscheiden, und ich lernte ihre Namen kennen. Aber da gab es noch eine andere Spezies, die Programmierer. Sie saßen oft in einem Nebenraum, um die Codierungen ihrer Programme mit einer Datenerfassungsmaschine oder einem Org-Automaten auf Lochbänder zu übertragen. Einer von ihnen fiel mir besonders auf. Er hieß Bruno. Wenn die Frau, die mich gekauft hatte, sie hieß Christa, am Rechner arbeitete, war er oft in der Nähe. Sie arbeiteten in zwei Schichten, aber sie waren nicht immer ausgelastet. Wenn in der zweiten Schicht Rechenzeit frei war, oder auch an Sonnabenden, testeten die Programmierer ihre neuen Programme. Dabei konnte es schon einmal spät werden. Bruno testete gern seine Programme, wenn Christa Spätschicht hatte. Ich konnte zusehen, wie sie sich umarmten und küßten. Und dann verließen sie eng umschlungen den Rechnerraum. Im Vorraum stand ein altes Sofa, das hatte schon dort gestanden, als sie die Räume übernommen hatten, und es war für die Besucher aus den Kreisbaubetrieben bestimmt, wenn sie auf ihre Drucklisten warteten. Die Tür ließen sie offen, und ich konnte sie zwar nicht sehen, aber hören …

Eines Tages war Bruno ganz allein in der Rechenstation zurückgeblieben. Er hatte ein kniffliges Problem zu lösen, ich konnte es an den Kraftausdrücken erkennen, die er gebrauchte. Es war spät und schon dunkel, als er den Rechner endlich abschaltete. Die Rechenstation war von den Räumen, in dem sich sein Büro befand, durch einen Treppenabsatz getrennt. Bruno löschte das Licht und verließ die Rechenstation. Aber er kam fluchend und schimpfend wieder zurück. Man hatte ihn versehentlich ausgesperrt. Seine Tasche mit dem Telefonbüchlein, seine Schlüssel, seine Papiere und die Zeitkarte der Leipziger Verkehrsbetriebe befanden sich in seinem verschlossenen Büro, und er konnte sich keine Telefonnummern merken. Das Büro der Rechenstationsleiterin mit dem Telefon und einer Notliste an Telefonnummern war ebenfalls abgeschlossen. Ein Weile stand er ratlos im Rechnerraum herum. Dann traf mich sein Blick, und das Leuchten einer Idee huschte über sein Gesicht. Er nahm mich und ging mit mir auf den Treppenabsatz. Dann öffnete er ein Fenster und kletterte auf das Fensterbrett. Über den Außensims hangelte er sich vorsichtig zum nächsten Fenster. Er packte mich fester und schlug mit mir die Scheibe ein. Unten stand ein Betrunkener, der sein Wasser abschlug. Er glotze mit offenem Mund zu uns herauf. Dann bemerkte er endlich, daß er sich die Hosen bepinkelte, und er fluchte gotteslästerlich. Ich fiel herunter und sauste nur wenige Zentimeter an seinem Kopf vorbei. „Laß das liegen!“ brüllte Bruno nach unten. „Ich komme gleich, um es zu holen!“ Dann griff er nach innen und öffnete die Verriegelung des Fensters. Der Betrunkene war kopfschüttelnd und Unverständliches lallend davongewankt. Bruno kam und holte mich. Er säuberte mich und stellte mich zurück an meinen Platz.

Zum Ende der siebziger Jahre begann eine große Zeit des Umbruchs. Zuerst kamen die Mikrorechner der K-1510-Klasse. Bruno und sein Kollege Arno programmierten sie in Assemblersprache und machten sie zu intelligenten Datenerfassungsgeräten. Der C8205 konnte die Flut der Lochbänder kaum noch verarbeiten, und in Stoßzeiten fuhren sie drei Schichten. Eines Tages kam eine Mitarbeiterin der Abteilung ‚Grundmittelverwaltung‘ vorbei. Die neuen Computer sollten inventarisiert werden. Bruno führte sie von Gerät zu Gerät, es waren vier Stück. Die Mitarbeiterin prüfte gewissenhaft eine Liste und die Gerätenummer. Alles hatte seine Ordnung, und sie schrieb schrieb eine Nummer auf ein Inventarschild und klebte es auf das Gerät. Bruno schäkerte ein wenig mit ihr herum, und zum Schluß führte er sie in den Rechnerraum. „Und das ist der Letzte“, sagte er, trat vor meinen Stahlschrank und nahm mich herunter. Die Frau lachte. Dann nahm sie ein weiteres Inventarschild und klebte es auf das linke Seitenteil meines Rahmens, direkt neben meinen Preis.

Dann kam der rumänische Rechner vom Typ I-100, ein Nachbau des berühmten PDP-11. Räume wurden umgebaut, neue Räume in die Abteilung eingegliedert, der C8205 wurde in einen abgelegenen Raum verlegt. Als der I-100 installiert war, sah ich, daß der C8205 keine Zukunft haben würde. Christa verließ die Rechenstation und wurde Abteilungssekretärin. Sie fühlte sich den Anforderungen der neuen Technik nicht mehr gewachsen. Man stellte neue Mitarbeiter ein. Bruno, Arno und die anderen Programmierer ließen sich von rumänischen Spezialisten in der Handhabung des Computers und seiner Programmierung unterrichten, und sie erlernten die Sprache COBOL. Das war eine neue Erfahrung, denn bis dahin hatten sie nur Maschinencode und Assembler gekannt. Bruno mußte seine verschütteten Englischkenntnisse auffrischen, aber es ist leicht, mit Menschen anderer Nationalität in einer dritten Sprache zu kommunizieren. Da gibt es keine Redundanzen. Die hektischen Wochen der Installation und der Einweisungen gingen vorüber, und die Rumänen reisten wieder ab. Es kamen andere Rumänen, zwei Hardwarespezialisten und ein Informatiker, die Bruno und die anderen ein paar Monate begleiten sollten. Der Informatiker war ein Rumänien-Ungar mit deutschen Wurzeln. Er sprach ausgezeichnet Deutsch, und Bruno konnte sich entspannen. Die Rumänen lieferten weitere Rechner in das Land, das es nicht mehr gibt, und am Ende hatten sie sieben der I-100-Computer im Lande. Bruno erwarb sich zwischen Potsdam, Leipzig, Freiberg und Radebeul den Ruf des Großen COBOL-Spezialisten. Er hielt Lehrgänge ab, arbeitete an seinen Projekten, und er war überhaupt sehr beschäftigt. In den Raum, in dem der C8205 stand, kam er nur noch selten. Niemand beachtete mich mehr. Manchmal schob man mich ärgerlich beiseite, wenn man Platz brauchte. Irgendwann wurde der C8205 abgebaut und weggebracht. Ich bekam einen neuen Platz im Vorraum, in dem das alte Sofa stand, in einem Regal, in dem die Mitarbeiter der Kreisbaubetriebe ihre Unterlagen zur Bearbeitung zu hinterlegen pflegten. Für kurze Zeit bekam ich wieder ein wenig mehr Aufmerksamkeit, aber diese Phase ging schnell vorüber.

Man kauft Gegenstände, weil man sie benötigt und um sie zu gebrauchen. Aber mich benötigte niemand. Ich stand nutzlos herum, und meine satirische Bestimmung hatte außer Christa, Arno und Bruno niemand wirklich wahrgenommen. Arno war schwer krank, er verließ den Betrieb. Soviel ich weiß, hat er den Kampf gegen die Krankheit am Ende verloren und ist viel zu früh gestorben. Christa hatte mich in ihrem Sekretärinnenbüro längst vergessen, und Brunos neue Leidenschaft hieß COBOL. Man hatte ihm ein Terminal in sein Büro gestellt, und er mußte nur noch selten durch den Vorraum mit dem alten Sofa gehen, zum Beispiel, um Drucklisten aus dem Banddrucker zu holen oder ein Magnetband aufzulegen. Ab und zu aber mußte er mich doch bemerken, sein Phlegma war so ausgelegt, und so blieb ich in seinem Blickfeld. Eines Tages begann eine neue Kraft im ORZ zu arbeiten. Man munkelte hinter vorgehaltener Hand, daß sie Brunos Protegé sei. Bruno hatte sie während eines Seminars kennengelernt, das er in einer benachbarten Stadt abgehalten hatte. Ihm war die hübsche und begabte junge Frau, die vor Kurzem an einer Spezialoberschule das Abitur erworben hatte, im Unterricht aufgefallen, und weil bis zum Beginn ihres Studiums noch ein Jahr Zeit war, hatte er seinen Abteilungsleiter überredet, sie im Kombinat als Hilfs-Operator anzustellen. Bruno liebte es, sie selbst anzuleiten, und sie arbeitete sich schnell ein. Sie hieß Andrea, und die Zeit, die er früher mit Christa verbracht hatte, verbrachte er jetzt mit ihr.

Bald war Andrea so gut mit der Materie vertraut, daß sie auch allein in der Spätschicht eingesetzt werden konnte. Die beiden anderen jungen Frauen im ORZ, die Familie und kleine Kinder hatten, sahen es mit Freude. Wenn es in dem großen, weitläufigen und unübersichtlichen Gebäude still geworden war, wenn alle anderen nach Hause gegangen waren, und wenn nur noch die Lüfter des Computers rauschten, die Magnetbandgeräte surrten und der Banddrucker ratterte, wenn das abendliche Leben auf den Straßen der City, das damals einen Hund jammern konnte, ganz zum Erliegen gekommen war, dann schloß man alle Türen ab. Man hatte keine Angst vor Sittenstrolchen oder Einbrechern, aber nach einem Zwischenfall mit ein paar betrunkenen Krakeelern hatte der Abteilungsleiter die entsprechende Anweisung erteilt. Andrea war jung, begabt und intelligent, aber wie alle jungen Leute neigte sie ein wenig zu Oberflächlichkeit und Vergeßlichkeit. Sie feierte gern mit den neuen Kollegen, und sie vergnügte sich gern in der Diskothek und hatte überhaupt gerne Spaß, worin immer der bestand. In ihrer Freizeit spielte sie bei Motor Gohlis-Nord Handball. Sie galt als zuverlässige Abwehrspielerin, an der man nicht so leicht vorbeikam, und meist wurde sie als ‚Indianer‘ eingesetzt. Die Aufmerksamkeit Brunos schmeichelte ihr, und sie fühlte sich wohl in seiner Nähe. Natürlich hatte sie von Anfang an gewußt, daß er verheiratet war und zwei Kinder hatte, und sein Verhältnis mit Christa wird sich auch bis zu ihr herumgesprochen haben. Ich sah es ihr nach, denn sie war ohne Vater aufgewachsen.

Die wichtigste Aufgabe der Rechenstation war die monatliche Lohn- und Gehaltsabrechnung des Kombinates, aber auch der Kreisbaubetriebe. Wenn es so weit war, herrschte regelmäßig Ausnahmezustand. Eines Tages bearbeitete Andrea allein die Lohnrechnung des Kreisbaubetriebes Altenburg, ihre Kollegin Gitta Bergmann war wegen der Kinder krankgeschrieben. Die Software stammte von Bruno, und er hatte das Mädchen persönlich in die Bedienung eingewiesen. Alles lief bestens, die Bewegungsdaten waren geprüft und in Ordnung, der Rechner lief ohne Probleme. Sie hoffte bald fertig zu sein und früher Feierabend machen zu können. Sie hatte alle Listen ausgedruckt, und sie wollte sie in den Vorsaal bringen, um sie in mein Regal zu legen. Der Drucker schwieg, und obwohl die Lüfter rauschten, kam es ihr vor wie totale Stille. Da hörte sie aus dem Vorraum merkwürdige Geräusche. Sie begriff, daß dort schon länger jemand zu Gange sein mußte. Sie legte den Papierstapel beiseite, öffnete leise die Tür zum Vorraum und lugte vorsichtig nach draußen. Sie sah den gebeugten Rücken eines Mannes, der damit beschäftigt war, mit Gewalt einen Schreibtisch zu öffnen. Er enthielt nichts Besonderes: Übergabeprotokolle, Listen mit Telefonnummern, ein paar Stifte, Blöcke und Kladden. Aber auch die Kaffeekasse. Schließlich krachte es, und die Tür sprang auf. Der Einbrecher hob den Kopf und lauschte kurz. Dann bückte er sich noch einmal, und als er sich wieder aufrichtete, hatte er die Stahlkassette mit der Kaffeekasse in der Hand. Andrea wurde wütend. „Was machen Sie da?“ schrie sie. Der Einbrecher fuhr herum, seine Augen hatten sich geweitet, in der rechten Hand hielt er einen kurzen Kuhfuß. „Scheiße!“ brüllte er. Er hob die Hand mit dem Brecheisen, aber bevor er sich auf Andrea stürzen konnte, hatte sie nach mir gegriffen. Der Strolch hatte den ersten Schritt noch nicht gemacht, da traf ich seine Stirn und hinterließ eine Platzwunde. Aus der Wunde strömte Blut wie ein Sturzbach und lief ihm über das Gesicht. Der Einbrecher brüllte auf und ließ das Brecheisen und die Kassette fallen. Dann drehte er sich um, stürzte zur Tür, lief durch das Treppenhaus davon und hinterließ eine Blutspur, die noch Tage später zu sehen war. Andrea konnte kein Blut sehen, und es wurde ihr schlecht. Als sie sich wieder erholt hatte, sortierte sie in aller Ruhe die Listen und trug sie in das Übergabeprotokoll ein. Dann schaltete sie den Rechner aus, löschte das Licht und ging nach Hause.

Dann kam der Herbst des Jahres 1989. Bruno und die anderen kamen wie jeden Tag auch montags frühmorgens pünktlich zur Arbeit, als gäbe es nichts wichtigeres, und ebenso pünktlich um sechzehn Uhr machten sie Feierabend, als müßten sie unbedingt noch den Plan erfüllen. Und dann zog Bruno mit all den anderen über den Innenstadtring. Und wie die anderen rief auch er „Wir sind das Volk!“ und „Visafrei bis Schanghai!“, dabei wollte er gar nicht nach Schanghai. Er wollte doch bloß ins Braunschweigische, um seiner Lieblingstante in Destedt seine Aufwartung zu machen und um mit seinen Cousins bei Krökel ein paar „Feldschlößchen“ zu trinken. Und er wollte nicht nachweisen müssen, daß er von einem nahen Verwandten zur Silbernen Hochzeit eingeladen war, und er wollte nicht gezwungen sein, bei der Paß- und Meldestelle der Volkspolizei eine Lebensbescheinigung für den nahen Verwandten vorlegen zu müssen. Und er wollte endlich in der Buchhandlung Neumeyer im Richard-Strauß-Weg in Braunschweig ungestört nach Büchern von Böll, Lenz, Heller, Irving, Grass und Hemingway stöbern. Und wie die anderen hatte auch er am 9. Oktober eigentlich gar keine Angst, daß etwas wirklich Schreckliches passieren könnte. Sie konnten es sich einfach nicht vorstellen! Eine Führung, deren Kernspruch ihre Verbundenheit mit den Massen war, konnte doch nicht einfach auf diese Massen schießen lassen! Und wer überhaupt sollte schießen? Die paar Stasi-Hanseln? Oder die Kampfgruppler? Die waren doch selbst dabei im Demonstrationszug! Oder die jungen wehrpflichtigen Soldaten und Bereitschaftspolizisten, die ohnehin nicht an den „Sinn des Soldatseins“ glaubten? Oder Wachtmeister Krause, der Abschnittsbevollmächtigte? Der nette Herr Krause aus dem Kirchweg nebenan? Der für seine Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft älteren Menschen gegenüber bekannt war? Die Nachrichten über extra bereitgestellte Blutkonserven und Krankenbetten in den Leipziger Krankenhäusern hält Bruno heute für absichtlich gestreuten Ondit, darin waren sie groß. Als sich die Slogans wandelten, wurde Bruno mißtrauisch. Und als es nur noch hieß „Wir sind ein Volk“, blieb Bruno den Demonstrationen fern. Jetzt hatte er Zeit nachzudenken, über die Zukunft seines Arbeitsplatzes und über seine eigene Zukunft. Bruno konsumierte im Westfernsehen nicht nur die Unterhaltungsshows und die Samstagsfilme, sondern auch „Monitor“, „Kennzeichen D“ und „Panorama“. Die Beispiele aus dem Lebens seiner Verwandten im Braunschweigischen taten ein Übriges, und er ahnte, wohin die Fahrt gehen würde.

Nach dem Vollzug der Wirtschafts- und Sozialunion war Bruno damit beschäftigt, seine Lohn- und Gehaltssoftware auf das neue System umzustellen. Niemand half ihm dabei. Manchmal ging er abends gar nicht mehr nach Hause, sondern er schlief im Vorraum auf dem alten Sofa, und er tat mir leid. Im September liefen die letzten Abrechnungen mit Brunos Programmen. Die meisten Terminals und all die anderen Geräte waren schon verschrottet worden. In die leeren Räume zog eine Firma aus dem Badischen ein und baute dort ihre Computer auf. Das Kombinat war in seine Bestandteile zerlegt worden. Die neuen Betriebe nannten sich jetzt GmbHs und unterstanden der Treuhand, und sie bildeten sich Wunder was darauf ein. Die Firma aus dem Badischen würde in Zukunft ihre Buchhaltung und ihre Lohn- und Gehaltsabrechnung erledigen. Ein paar Abteilungen waren bereits durch Management-by-out privatisiert worden, und Bruno hatte das Angebot eines guten Bekannten aus der Abteilung „Bauwerkstrockenlegung“ angenommen, für dessen neue kleine Fassadenreinigungs-Firma die Buchhaltung und alle anderen Büroarbeiten zu erledigen. An seinem letzten Tag im Markt 8 packte er seine persönlichen Sachen in einen Karton und ging noch einmal durch alle Räume. Bruno ist sentimental, aber nicht zu sehr. Er ließ ein paar Disketten mitgehen, die irgendwo achtlos herumlagen, auch ein paar Schreibblöcke und Bleistifte, und er dachte daran, welches Theater man früher wegen der Beschaffung von ein paar Disketten und einiger lächerlicher Schreibblöcke veranstalten mußte. Die Arbeiter der ehemaligen Abteilung „Fuhrpark“, jetzt Bau-Transport GmbH, luden Möbel, Geräte und Maschinen in Schuttcontainer. Ein Arbeiter nahm mich vom Regal, das sie zerlegen wollten, und mich traf ein verständnisloser Blick. Bevor er mich in den Container werfen konnte, nahm Bruno mich ihm weg. „Pfoten weg!“ knurrte er. Der Arbeiter tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und schüttelte den Kopf. Bruno steckte mich in seinen Karton und nahm mich mit. Zu Hause staubte er mich ab und stellte mich in sein Bücherregal. Hier stehe ich nun, und manchmal träume ich von den vergangenen Tagen.

© Bernd Mai, Leipzig, August 2012

One Response to Mein Name ist Abakus

  1. Renate says:

    Ich find’s immer wieder erstaunlich wie Du aus einer kleinen Idee eine tolle Geschichte machst. Bin auf die nächste gespannt 🙂

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