von Bernd Mai
John Bull jr. marschiert stramm durch die Schwingtür, und er schlenkert effektvoll sein Tennisracket. Der kleine Nurmi versucht, nach Johnny hindurchzuhuschen, aber die schwere Tür trifft ihn im Zurückschwingen unbarmherzig ins Kreuz. Nurmi verzieht das Gesicht, aber einen Schmerzenslaut kann er gerade noch unterdrücken. Schnell schaut er sich um, aber es ist niemand in der Nähe, der es hätte beobachten können. Johnny ist auf dem Weg zum Tennisplatz, da schaut er sich nicht nach irgend jemanden um. Als er an der Tischtennisplatte vorüberkommt, spuckt er mitten drauf. Tischtennis ist für ihn kein Sport, und die Zwerge, die sich jeden Tag um die Platte versammeln, um chinesisches Pingpong zu spielen, nimmt er nicht für voll. Johnny ist sowieso der Meinung, daß alle wichtigen Sportarten von den Briten erfunden wurden: Tennis, Golf, Polo und Kricket. Rugby und Fußball als Sport von britischen Proleten kann er gerade noch so gelten lassen, da kennt er nichts, da ist er liberal.
Angelika hat die Tischtennisplatte mit einem Lappen gereinigt. Angewidert spült sie ihn unter dem Spülstein aus. Sie ist ein kompaktes und kräftiges Mädchen, aber sie wagt es nicht, Johnny in die Schranken zu weisen, und obwohl jeder wußte, daß er jeden Tag auf die Platte spuckt, fand sich niemand von den Jungen, der ihm das abgewöhnte. Selbst Paddy, der starke und selbstbewußte Ire, der doch bestimmt noch eine Rechnung mit ihm offen hatte, traut sich nicht. Jean der Franzose und Jean der Belgier waren gerade eingetrudelt, und Jean der Franzose hat seine Freundin Klara mitgebracht. Jean der Franzose ist ein kleiner und drahtiger Kerl, und er liebte es, mit den Mädchen schön zu tun. Nach und nach kommen auch all die anderen: Giuseppe, Carlos, Seppel, Pitter, der dicke Kostas und Ivo. Aqua, der Malteser, kommt wie immer als letzter. Natürlich heißt er nicht Aqua, aber weil seinen phönizischen Namen niemand aussprechen kann, nennen ihn alle Aqua. Übrigens auf Johnnys Anregung hin, aber daran erinnert sich niemand mehr. Sie wollen Tischtennis – chinesisch – spielen.
Eigentlich geht das Spiel so: Es müssen mehr als zwei Mitspieler sein. Sie gruppieren sich um die Platte herum. Der erste gibt auf, und sein Gegenüber muß parieren. Dann flitzen alle im Uhrzeigersinn um die Platte, um die nächste Position einzunehmen. Nun spielen sich die nächsten beiden den Ball zu. Dann wieder Positionswechsel und so weiter. Wer einen Fehler macht, scheidet aus. Am Ende stehen sich die beiden stärksten Spieler gegenüber, und wer übrig bleibt, hat gewonnen. Die Kinder hatten jedoch beschlossen, die Spielregeln zu ändern. Sie waren übereingekommen, daß niemand ausscheiden müssen sollte, und Ziel des Spieles sollte es sein, den Tischtennisball so lange wie möglich auf der Platte hin- und herzuspielen. Jeder Mitspieler sollte so gut und geschickt spielen, wie er konnte, und am Ende sollte jeder mit einem zufriedenen Gefühl die Platte verlassen, wenn die Glocke zum gemeinsamen Abendessen schellte.
Also treffen sie sich jeden Tag zur Sportstunde an der Tischtennisplatte. Iwan Semjonowitsch und April T. Washington, die Sportlehrer, die die täglichen Übungen beaufsichtigen, waren zuerst mißtrauisch gewesen. Aber die Tischtennisplatte stand nur nutzlos in der Ecke herum und verstaubte. Als sie angeschafft worden war, für verregnete Tage, hatten alle Beifall geklatscht. Man hatte eine Tischtennismannschaft ins Leben gerufen, und Li Ping Po, einen abgehalfterten Weltmeister, als Trainer engagiert. Aber Trainer Li entdeckte irgendwann seinen Hang zum vietnamesischen Lúa Mói, und als er begann, kleine rote Büchlein zu verteilen, in denen die Grundsätze des erfolgreichen Tischtennisspiels propagiert wurden, verließen die Spieler die Mannschaft und schlossen sich anderen Sportarten an. Dann spuckte Johnny das erste Mal öffentlich auf die Tischtennisplatte, und man entließ Trainer Li. Erst die dralle Angelika und Jean der Franzose brachten die Platte zu neuen Ehren, als sie mit ein paar anderen den Chinesisch-Club gründeten. Inzwischen dulden die Sportlehrer und das gesamte Erzieherkollegium das Treiben um die Tischtennisplatte. In allen anderen Sportarten spielt das Heim landesweit irgendwo in der Mitte mit, aber einen Chinesisch-Club gibt es nur hier, und sie gelten daher als etwas besonderes. Johnny aber spuckt immer noch täglich einmal auf die Platte, und niemand findet sich, der ihm ein paar aufs Maul haut.
Die Kinder nehmen Aufstellung. Jean der Franzose richtet es so ein, daß er neben Angelika zu stehen kommt. Klara ist damit beschäftigt, Giuseppes Neue, die sich zu ihnen gesellt hat, auszuhorchen. Sie ist ein schönes, langhaariges Mädchen, daß ständige ein Bardot-Schmollmündchen zieht, als hätte man es ihr beigebracht. Klara achtet nicht auf ihren Freund, und Jean nutzt die Gelegenheit, Angelikas strammen Hintern zu tätscheln. Das Mädchen weiß nicht, ob sie sich belästigt oder geehrt fühlen soll. Dann siegt das Preußische Element in ihr.
„Wenn Du das noch mal machst, kriegst Du die Kelle über Deinen gallischen Nischel!“
„Strammer Preußenhintern“, kichert Jean.
Giuseppe hat das beobachtet. Er verzieht das Gesicht. Auf die beiden muß er sowieso aufpassen, sie verdarben ihm womöglich seine machtpolitischen Ambitionen. Seltsamerweise aber hatten sie sein Treiben bisher nur leicht pikiert aus der Ferne beobachtet.
Das Spiel beginnt. Jean der Belgier schaufelt den Ball zu Ivo über das Netz. Ivo hebt den Ball geschickt in die Höhe, um dem dicken Kostas Zeit und Gelegenheit zu geben, den Schlag zu parieren, und Pitter bei seiner Parade gut aussehen zu lassen. Aber Kostas vermasselt es. Er erwischt den Ball nur mit der Kante, und der Ball springt im hohen Bogen ins Aus.
„Mann, immer machst Du das selbe Scheiße!“ schimpfte Pitter.
Alle lachen. Aber nicht wegen Kostas, sondern weil Pitters niederländischer Akzent so putzig klingt. Ein Holländer kann auf Deutsch sagen, was er will, alle finden es lustig und lachen sich kaputt.
„Wartet ab, bis auch die Tschechen mitspielen“, sinniert Angelika, und sie denkt an Spejbel und Hurvinek, die sie aus ihrer ostdeutschen Heimat kennt, und sie lächelt. Jean der Franzose interpretiert das falsch. Er faßt ihr wieder an den Hintern. Im Eifer des Spiels achtet Angelika aber nicht darauf. Sie ist als Nächste dran. Ihre Wangen sind rot vor Eifer, und sie erwischt den Ball leidlich.
„Laufzeitverlängerung!“ juchzt sie glücklich.
Nurmi bekommt den Ball ganz günstig und schmettert ihn übermütig zurück. Ihm gegenüber steht Kostas, und Kostas schlägt daneben. Der Ball landet irgendwo im Gras.
„Kostas, det eene kann ick Dir saachen“, raunzt Angelika. „Wennde Dir nich endlich anstrengst, vapaß ma Dir Sangsiohn‘!“
Kostas hebt den Ball auf, und er versucht eine Angabe. Es gelingt erst beim zweiten Versuch leidlich. Jean runzelt die Stirn, alle Kinder runzeln die Stirn, aber niemand sagt etwas. Das Spiel gerät wieder in Fluß. Ping-pong, ping-pong macht der Ball. Man hört nur leise Warnrufe und das Trappeln der Kinderfüße. Ab und zu ein kleines Keuchen. Jean hat Angelika dieses Mal an die Brust gefaßt, und Angelika beschließt, es ihm heimzuzahlen. Sie ist wieder dran, und sie trifft den Ball gerade so, aber Pitter ist ein guter Spieler, er pariert den Ball und gibt eine Kerze zurück. Nach Angelika ist Jean dran. Er schlagt einen eleganten Effet-Ball, der schnurgerade in die gegenüberliegende Hälfte segelt, und als er sich zu seiner neuen Position begeben will, steht Angelika unmittelbar vor ihm, grinst frech, und sie faßt ihm kräftig in den Schritt.
„Oh!“ sagt Jean.
„Oh! Laufzeitverlängerung“, sagt Angelika. Jean hat einen Steifen.
Sie gehen tänzelnd weiter. Angelika überlegt, was man daraus machen kann. Man muß es ja nicht an die große Glocke hängen. Sie dreht sich zu Jean um und lächelt verschämt. Jean ist rot geworden. Er wedelt ihr mit der Kelle vor dem Gesicht herum.
„C’est à toi“, blafft er.
Angelika steht am Abschlag, wackelt mit dem Hintern und wartet auf den Ball. Aber vergebens, Kostas hat wieder mal nicht aufgepaßt. Nurmi schimpft wie ein Rohrspatz, aber auf finnisch, und niemand versteht ihn. Kostas beginnt zu weinen. Er wirft die Kelle auf die Platte und läuft weg. Alle schauen Nurmi vorwurfsvoll an.
„Ich habe doch nur gesagt, daß er mit seiner Großmutter Tango tanzen soll!“ sagt er. Da ruft die Glocke zum Abendessen, und alle atmen auf. Angelika macht Jean, Giuseppe, Paddy, Pitter, Carlos und Seppel das Geheimzeichen.
„Um zehn in der Höhle!“ heißt das, und sie macht das Gesicht so finster, wie sie nur kann.
Am nächsten Tag marschiert John Bull jr. wie immer straff auf die Schwingtür zu. Um den Hals hat er lässig ein Handtuch geschlungen, die rechte Hand jongliert den Tennisschläger, in der linken schaukelt eine Wasserflasche. Mit dem rechten Fuß tritt er gegen die Schwingtür, und in Erwartung, daß sie aufschwingt, läuft er weiter. Aber die Tür bleibt zu, und Johnny knallt mit der Stirn gegen die dicke Glasscheibe. Die Scheibe gibt nicht nach, und Johnny stutzt einen Moment. Dann verdreht er die Augen und fällt hin. Jenseits der Glasscheibe erscheinen zwei Knabengesichter, eins davon gehört Nurmi. Er riskiert einen Blick auf den ohnmächtigen Johnny und nickt zufrieden. Dann beseitigen die Knaben eine kräftige Bohle, mit der die Tür verrammelt worden war, und sie huschen davon. Sie entsorgen die Bohle unter einer Treppennische, und absichtlich langsam schlendern sie zur Tischtennisplatte hinüber. Nurmi macht das Daumen-Hoch-Zeichen, und Giuseppe telefoniert per Handy mit dem Hausmeister. Der Hausmeister und Iwan Semjonowitsch finden den bewußlosen Johnny und bringen ihn zum Med-Punkt. April T. läuft wie ein aufgeschrecktes Huhn planlos durch das Treppenhaus. Die Kinder gruppieren sich um die Tischtennisplatte. Heute hat niemand darauf gespuckt. Aber das Spiel kommt nicht so richtig in Gang. Kostas fehlt.
„Wenn Du nicht mehr herumpatzt, kannst Du wieder mitspielen“, haben sie ihm gesagt.
Kostas aber sitzt jetzt bei Mister Driller im Anglerlehrgang und läßt sich in die Geheimnisse des Grundangelns einweihen. Wenn er sich ein bißchen anstrengt, kann er den versäumten Stoff nachholen und am Ende der Saison den Fischereischein erwerben.
© Juni 2011