Thüringen

Kleine Landeskunde – Heute: Thüringen

oder

Roster – Wartburg – Rennsteiglied

Die Thüringer haben ein Problem: Im Westen unseres Landes werden sie wegen ihrer Mundart stets für Sachsen gehalten. Das nagt an ihrem Selbstbewußtsein. Sie wollen Thüringer sein, und die Zeit, als Sachsen und Thüringen noch ein Land waren, ist seit fast sechshundert Jahren, seit dem Sächsischen Bruderkrieg, vorbei. Die Tatsache, daß das heutige Sächsisch, bzw. die Mitteldeutsche Umgangssprache, in Thüringen, im Gebiet etwa zwischen Gotha im Westen, Nordhausen im Norden und Gera und Altenburg im Osten, ihren Ursprung hatte, ist leider in Vergessenheit geraten. Im Süden des Landes, jenseits des Kammes des Thüringer Waldes, werden fränkische Mundarten gesprochen.

„Mit rund 2,2 Millionen Einwohnern und einer Fläche von rund 16.000 Quadratkilometern gehört es zu den kleineren Ländern der Bundesrepublik. Landeshauptstadt und zugleich größte Stadt ist Erfurt, weitere wichtige Zentren sind Jena, Gera und Weimar.“ (Wikipedia)

Die Städte Eisenach, Gotha und Nordhausen und ihre Regionen erscheinen mir jedoch auch von einiger Wichtigkeit. In Eisenach werden Autos produziert, Nordhausen ist vor allem wegen seiner Kornbrennerei bekannt, und die Stadt Gotha schmückt sich mit einem wunderschönen Barockschloß, dem Schloß Friedenstein. Außerdem wurden dort früher die bekannten Einheitsstraßenbahnwagen der DDR, die sogenannten Gothawagen, gebaut. Im Volksmund wurden sie auch „Ulbricht-Wagen“ genannt, sie hatten nämlich auch keine Anhänger …

Den Namen hat das Land vom germanischen Stammesverband der Thüringer, der in diesem Gebiet nach der Völkerwanderung ein Königreich gegründet hatte. Über die Thüringer weiß man nicht viel, sie hinterließen nichts Schriftliches. Sie sollen gute Reiter und tüchtige Pferdezüchter gewesen sein. Man glaubt, ihr politisches und religiöses Zentrum habe sich in der Weimarer Gegend befunden. Merowingische Frankenkrieger haben im Jahre 531 an der Unstrut in einer katastrophalen Schlacht das Reich vernichtet und ausgelöscht, da sind sie wohl gründlicher gewesen als später Karl der Große im Kampf gegen Widukind und die (Nieder-)Sachsen. Der Freistaat Thüringen (TH) entstand in etwa seiner heutigen Form im Jahre 1918, nach dem Ende der deutschen Monarchie. Die vielen kleinen Herzogtümer auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes, deren Namen fast alle mit dem Präfix „Sachsen-“ begannen, also zum Beispiel „Sachsen-Altenburg“ oder „Sachsen-Gotha“, schlossen sich zum Land Thüringen zusammen, außer Sachsen-Coburg, das wollte zu Bayern. Die Landschaft Thüringens ist sehr abwechslungsreich. Wir haben sanft gewelltes Ackerhügelland, den Thüringer Wald und das Thüringer Schiefergebirge, aber auch das Thüringer Becken in der Mitte und weite Auen und Niederungen. Der Kyffhäuser im Nordwesten und der Süden des Harzes, der Kreis Nordhausen, gehören ebenfalls zu Thüringen. So vielfältig die Landschaft ist, so interessant sind Flora und Fauna. Aber bitte nicht vergessen: Thüringen ist altes Kulturland, trotz ausgedehnter Buchenwälder im Hainich, in dem sich noch – oder wieder – Luchs, Auerhahn und Wildkatze herumtreiben.

Was macht Thüringen interessant? (Außer, daß seine meisten Einwohner obersächsische Mundarten sprechen, natürlich.) Zunächst einmal: Der Freistaat liegt geografisch ungefähr in der Mitte Deutschlands, und manchmal nennt man ihn auch „Das grüne Herz Deutschlands“. Besonders der Thüringer Wald, das Kyffhäusergebirge und das Thüringer Schiefergebirge bieten vielfältige Erholungsmöglichkeiten. Für den kultur- und geschichtsinteressierten Touristen gibt es eine endlose Zahl von Orten und Sehenswürdigkeiten: die Wartburg bei Eisenach, die Klassiker-Stadt Weimar, die Altstadt von Erfurt, die Töpferstadt Bürgel, Schlösser und Burgen und so weiter und so fort. Thüringen ist das deutsche Kulturland schlechthin. Johann Sebastian Bach war Thüringer, er wurde 1685 in Eisenach geboren. Und heuer besonders angesagt: Luther ist zwar kein gebürtiger Thüringer gewesen, aber er lernte 1498 bis 1501 in Eisenach Latein und begann anschließend an der Erfurter Universität zu studieren. Im Jahre 1505 trat er in das Kloster der Augustiner-Eremiten in Erfurt ein. Auf der Wartburg übersetzte er die Bibel ins Deutsche. Und „last but not least in cultures“, wie man auf Neudeutsch sagt, muß man Herbert Roth (1926 – 1983) erwähnen. Der Musikant und Sänger gilt in Thüringen als Volksheld und Kulturheros, er hat 1951 das „Rennsteiglied“ komponiert. Es gilt noch heute als die inoffizielle und heimliche Hymne Thüringens, und es ist bekannter als die offizielle Hymne „Thüringen, holdes Land“. (Von der ich erst durch die Recherchen zu diesem Artikel Kenntnis erhielt, und die, wie ich hörte, eigentlich auch nichts Offizielles an sich hat.)

Der Thüringer ist bodenständig, und wenn man dem Mythos glauben darf, sitzt er immerzu am Grill und brät Roster. So nennt man dortzulande die Bratwürste. Und dabei benutzt er keinesfalls die üblichen Geräte wie Gabel und Zange, das ist verpönt, sondern die bloßen Hände. Deshalb erkennt man einen richtigen Thüringer auch an den Brandnarben an den Fingern. Wenn man an der Wursttheke jedoch „Bratwurst“ verlangt, bekommt man etwas, was anderswo „Knackwurst“ heißt. Überhaupt hat Thüringen regional-kulinarisch viel zu bieten, ganz im Gegensatz zu Sachsen. Erwähnenswert wäre der Thüringer Kloß, das Rostbrätel und das Aschebrätel, der Zwiebelkuchen, ein Verwandter des elsässer Flammkuchens, und der Altenburger Ziegenkäse. Fleisch- und Wurstwaren sind überhaupt angesagte heimische Produkte, denn jeder Thüringer steht unentwegt am Grill und … na ja, siehe oben.

Eine weitere kulinarische Spezialität, aber außerhalb Thüringens fast unbekannt, ist der Mutzbraten. Besonders im Osten um Gera und Altenburg herum. Der Mutz lebt in den tiefen Wäldern, und ist sehr scheu. Sein Fang erfordert eine Reihe von speziellen Fähigkeiten, über die ein Nicht-Thüringer in der Regel nicht verfügt. Wenn Du in Ostthüringen auf ein Volksfest gehst, mußt Du nach großen Stapeln von Birkenholzscheiten Ausschau halten. Dort gibt’s auch den beliebten und begehrten Braten. Zoologisch ist der Mutz ein Verwandter des Rasselbocks und des Wolpertingers.

Ein weiterer Mythos Thüringens sind die „Wismut“ und der „Wismut-Kumpel“. Eigentlich nennt der Bergmann das uranhaltige Erz Wismut, aber nach 1945 wurde die deutsch-sowjetische Aktiengesellschaft „Wismut“ gegründet, die der Sowjetunion das dringend benötigte Uran für ihr Kernwaffenprogramm beschaffte. In der Gegend um Gera herum grüßte man sich noch um 1990 auf der Straße mit „Glück auf!“ wie man sich anderswo mit „Grüß Gott!“ begegnet. Aber die Zeiten der „Wismut“ sind vorbei, und mancher arbeitslose Kumpel denkt wehmütig an die alten Zeiten, denn als Angestellter bei der „Wismut“ war man privilegiert. Aber die Sterblichkeitsrate der Wismut-Kumpel war hoch …

Aus familiären und anderen Gründen habe ich eine enge Beziehung zu unserem Nachbarland. Mein Bruder lebt in Gera. Meine Tochter lebt mit ihrer Familie auch in Thüringen. Und etliche Jahre lang verbrachte ich die Wochenenden regelmäßig in der kleinen Stadt Eisenberg. Eisenberg ist die Hauptstadt des Saale-Holzlandkreises, hat eine Autobahnabfahrt an der A 9 und eine barocke Schloßkirche. Sachsen-Eisenberg war im 17. Jahrhundert 25 Jahre lang ein eigenständiges Herzogtum, das sich von Sachsen-Altenburg abgespalten hatte. Aber der Herzog hatte keine Nachkommen, und er ist psychisch krank gewesen, wie man heute sagen würde. Damals sagte man „der Herzog ist dem Irrsinn verfallen“. Er glaubte an Spuk und Übersinnliches, und das wurde ausgenutzt. Schaut Euch die Schloßkirche an, die er erbauen ließ, und Ihr wißt, was ich meine. Über meine Begegnung mit spuk- und dämonengläubigen Menschen in jener Gegend habe ich lange gegrübelt, und mir ist nicht viel gutes dazu eingefallen. Aber gastfreundlich und herzlich ist er schon, der Thüringer, und gutes Bier braut er auch, trotz seines Identifikationsproblems.

© Bernd Mai, Löbejün & Leipzig, Sept. 2017

 

One Response to Thüringen

  1. Renate says:

    Toller Bericht über Thüringen. Mein Mann wurde in Eisenach geboren und ist in Ruhla aufgewachsen, sodass mir Thüringen nicht ganz unbekannt ist.

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