Anton macht sich nackig

                                      Anton macht sich nackig

                                                                      von Bernd Mai

    Wenn Anton an etwas glaubt, dann an die Wissenschaft. So hat er es gelernt, und so hält er es im Alltag. Mit Übernatürlichem, Übersinnlichem und Esoterik hat er nichts am Hut. Natürlich stellt er sich im Supermarkt immer an der falschen Kasse an, und wenn am Automaten seine Bankkarte nicht gelesen werden kann, reibt er sie manchmal am Jackenärmel. Wenn der Versuch auch beim zweiten Mal scheitert, dann ist eben der Automat kaputt, fertig. Und er geht seiner Wege. Sein Verhältnis zur Wissenschaft hat sich im Laufe seines Lebens gewandelt. Als junger Mann schwor er auf Doktor Lykke Aresin und Siegfried Schnabl. Die Behauptung seiner ersten Frau, daß Frau Doktor bei der schwierigen Geburt seiner Zwillinge zugegen gewesen wäre, blieb allerdings unbewiesen. Hätte aber sein können … 
    Je älter Anton wurde, um so öfter plagten ihn diese und jene Wehwehchen. Solange aber moderne Medikamente, zeitgemäße Behandlungsmethoden und ein Krankenschein mit den Wehwehchen fertig wurden, machte er sich keine Gedanken. Die Wissenschaft wird’s schon richten, dachte er, aber seit seine Rückenschmerzen chronisch geworden sind, weiß auch er nicht weiter. Bettina ist in dieser Frage pragmatisch. Ihr verstorbener Mann litt auch an Rückenschmerzen, und eine Osteopathin hatte ihm helfen können. Behauptet jedenfalls Bettina.
    „Ich will noch mal an den Bodensee“, sagt sie. „Und ich will mir keinen anderen Reisebegleiter suchen. Du bewegst Dich zu wenig!“
Also betreibt Anton Wassergymnastik, er nennt es „Wasserballett“. Er läßt sich immer neue Physiotherapien verschreiben, und sobald das Wetter einigermaßen mitspielt, holt er sein Fahrrad aus der Kellerbox, setzt den Helm auf und fährt ein paar Mal in der Woche die Runde um sein Wohngebiet. Dabei kann er sich richtig schinden, und wenn danach die Knie schmerzen, behandelt er sie mit einer Schmerzsalbe. Die Rückenschmerzen aber vergehen nicht, im Gegenteil, Anton hat das Gefühl, sie würden immer schlimmer. Bettina besorgt ihm einen Termin bei einer Osteopathin, und Anton resigniert und merkt ihn sich vor.
    Der Termin ist da. Bettina fährt Anton zur Praxis der Chiropraktikerin. Die Praxis liegt in einer kleinen, krummen Nebenstraße. Das Gebäude stammt aus der Gründerzeit und ist aufwendig restauriert. Viele Gebäude der Stadt stammen noch aus der Gründerzeit, denn sie wurde im Krieg kaum zerstört. Ein gewisser Graf Luckner, Kaperkapitän und Freibeuter des Ersten Weltkriegs, hätte durch seine internationalen Beziehungen den Beschuß der Stadt durch die Amerikaner verhindert, heißt es. Man will eine Straße nach ihm benennen, aber dagegen gibt es Widerstand. Der Graf hätte eine Vorliebe für kleine Jungs gehabt, sagt man, aber dafür gibt es keine Beweise. Aber das alles interessiert Anton jetzt nicht. Er meldet sich an der Rezeption, und die Dame bittet ihn, zu warten. Anton zögert, er hängt seine Jacke auf und setzt sich auf einen viel zu niedrigen Polsterstuhl. Er nimmt sich eine Illustrierte, eine von den Besseren, und er vertieft sich in einen Artikel über die Herstellung von Spaghetti Bolognese. Aber er kann keine neuen Erkenntnisse gewinnen, und er legt die Zeitschrift beiseite. Außerdem ist er nervös und kann sich nicht konzentrieren. Er überlegt sich ein paar einleitende Worte, und er verwirft sie wieder. Wegen Klugscheißerei. Soll er der Therapeutin sagen, daß er nicht daran glaubt? Dann ist sie vielleicht beleidigt, denkt er. Am Ende beschließt er, ehrlich zu sein und nur auf ihre Fragen zu antworten.
    Dann ruft ihn die Dame von der Rezeption. Sie schickt ihn in den zweiten Stock, dort wären die Praxis und das Wartezimmer. Anton steigt hinauf. Die Tür zum Wartezimmer ist offen, und er hängt seine Jacke an eine Garderobe. Aus einem unsichtbaren Lautsprecher tönt beruhigende Harfenmusik, „Lady in Red“ von Chris de Burgh, aber Anton erkennt den Titel kaum wieder. In einer Ecke steht ein gewichtiger Massagesessel mit Lederbezug, der mit einer Konsole bedient werden kann. Sehr einladend, zumal Antons Rücken sich wieder meldet. Aber dann setzt er sich auf ein Bänkchen, das ein wenig spillerig wirkt. Jahrhundertwende, denkt er, und er meint die vorhergehende. Bis auf den Massagesessel scheinen alle Möbel aus jener Zeit zu stammen. Auch die Garderobe, und die ist ausgesucht häßlich. Zwei zierliche Schränke erregen Antons Aufmerksamkeit. Sie dienen zur Aufbewahrung von CDs, aber das war sicher nicht ihr ursprünglicher Zweck. Anton schaut genauer hin, dann denkt er an Werkbundmöbel.
    „Donnerwetter!“ entfährt es ihm, und er erschrickt, aber niemand hat ihn gehört. An der Wand hängt eine Pendeluhr mit Jugendstilverzierungen. Sie tickt, und das Pendel pendelt, tick-tack, … Über dem Zifferblatt ist eine Plakette befestigt, auf der das Jahr 1907 zu erkennen ist. Aber Anton hat zu oft die Sendung „Kunst und Krempel“ vom Bayerischen Rundfunk gesehen, um nicht mißtrauisch zu sein. Überhaupt gibt es in dem Raum etliche Jugendstilornamente im Deckenstuck und an den Türzargen, aber sie wirken alle wie zufällig und nicht bis zu Ende gedacht und ausgeführt. Die Farben der Wände erinnern an Bonbons, an teure Bonbons sicher, aber eben an Bonbons. Er weiß nicht, wie er das alles einordnen soll: Das Haus, die Möbel, die Verzierungen, und sein eigener Besuch hier, der nicht zu seiner Überzeugung paßt. „Ein Puppenhaus“, denkt er und ihm ist unbehaglich. Und wie wird er mit der Therapeutin zurechtkommen? Man schreibt dieser Spezies Wunderdinge bezüglich Psychologie und Menschenkenntnis zu, das glaubt Anton zu wissen, und er stellt sich eine strenge Dame seines Alters vor, mit grauen Locken, die unter dem weißen Kittel eine elegante perlfarbene Bluse mit einer schalartigen Zuhaltung unter dem Kinn trägt. Dann fallen ihm nur noch eisgraue Augen ein, die sich hinter einer schmalen Brille verbergen.
    Hinter der Tür zum Ordinationszimmer rappelt es, dann geht sie auf. Eine jugendlich wirkende blonde Frau geleitet einen älteren Herrn herein und komplimentiert ihn in den Massagesessel. Sie spricht beruhigend auf ihn ein und empfiehlt ihm, sich wenigstens eine viertel Stunde in dem Sessel auszuruhen. Dann wendet sie sich Anton zu.
    „Bitte, kommen Sie herein.“
    „Danke“, sagt Anton und tritt zögernd und unsicher näher. Die Frau schließt die Tür, und Anton nimmt Platz. Sie setzt sich ihm gegenüber an ihren Schreibtisch, zückt einen Stift und legt eine Karteikarte bereit. Anton betrachtet sie interessiert, und er ist ganz froh, daß sich seine Vorstellung in Rauch aufgelöst hat. Sie ist eher klein, hat unter der modischen Frisur ein freundliches Gesicht mit einem Rokoko-Mündchen und verfügt über Rundungen, wie sie Anton für gewöhnlich zu schätzen weiß, ein bißchen wie Bettina, bis auf den Mund, nur fünfundzwanzig Jahre jünger, grob geschätzt. Später sollte er begreifen, daß er auch damit völlig daneben lag.
    „Warum sind Sie hier?“
    „Wegen meiner Rückenschmerzen“, und das ist nichts als die Wahrheit und keine Klugscheißerei. Anton beschreibt sie eingehend.
    „Wie sind Sie auf meine Praxis gekommen?“
    „Meine …“, er zögert, „… Freundin hat mich überredet.“ Anton wird es ungemütlich.
    „Und wie ist Ihre Freundin auf mich gekommen?“
Anton hat es satt. Er erzählt ihr ausführlich die Sache mit Bettinas verstorbenem Mann.
    „Ich glaube aber nicht an Ihre Methode“, platzt er dann heraus, und er spürt, wie er rot wird.
    „Aha“, sagt sie nur und nickt.
    „Ich glaube nur an die Wissenschaft!“
    „Und? Hat die Ihnen geholfen?“ Dann rudert sie zurück. „Ich verstehe meine Methode nicht als Konkurrentin der Schulmedizin“, beschwichtigt sie, das muß sie sicherlich tun. „Ich sehe sie als Ergänzung. Und ich greife gern auf deren Erkenntnisse zurück.“
Anton setzt auf seinen Altersbonus, das hilft.
    „Wissen Sie, ich gehe nächsten Monat in Rente, und wir wollen noch dies und das unternehmen. Zum Beispiel noch einmal an den Bodensee fahren, und ich fotografiere so gern. Landschaften, alte Bauten, auch Gesichter, fremde Gesichter. Und wenn die Schmerzen auch nicht verschwinden, so können Sie sie vielleicht lindern, so daß sie erträglich sind.“ Er zögert, und dann sagt er: „Auf einem sinkenden Schiff gibt es keine Atheisten.“
    Und dann beginnt das Verhör. Die Therapeutin fragt nach seinen Hobbies, nach Kinderkrankheiten und Verletzungen, nach Operationen und Unfällen. Und Anton erzählt aus seinem Leben. Von der schlimmen Lungenentzündung, die er als Kleinkind hatte, und die ihn beinahe das Leben kostete, dem Sturz von der Bootsschaukel im Kinderferienlager, nach dem er drei Tage nicht richtig gehen konnte, und niemand es für nötig hielt, ihn zu einem Arzt zu bringen. Als Junge war er viel und ausdauernd Rad gefahren, und auch dabei ist er gestürzt, und er hatte sich verletzt, und dreimal – das muß man sich vorstellen – hatte er die gefährliche Infektionskrankheit Scharlach gehabt. Die Schilddrüsentotaloperation, die er für sein Herzrasen und das Durcheinander in seinem Stoffwechsel verantwortlich macht, ist das Ende einer langen Kette von Mißlichkeiten. Es kommt allerhand zusammen.
    „Wie geht’s Ihnen seelisch?“ fragt die Therapeutin.
    „Gut.“ Anton wird mißtrauisch.
    „Wie ging es Ihnen nach Ihrer Scheidung?“ Anton kann sich nicht besinnen, etwas von Scheidung gesagt zu haben. Sie zählt eins und eins zusammen, natürlich.
    „Das ist zwanzig Jahre her.“
    „Egal. Wie ging es Ihnen?“
    „Schlecht. Ganz schlecht.“ Dann muß er erklären, daß es nicht die Scheidung von der Mutter seiner Kinder gewesen ist, und er erklärt auch, wie die Umstände beim ersten und beim zweiten Mal gewesen sind. Aber jetzt hält er sich mit Details zurück. Die Therapeutin hört zu. Ab und zu macht sie sich Notizen. Dann verspürt Anton plötzlich eine peinliche Lust, über die letzte schlimme Trennung zu sprechen. Auch die war ganz schrecklich gewesen, und sie hatte dazu geführt, daß Anton aus Angst, dem Alkohol zu verfallen, seine Psyche drei Monate lang in einer Tagesklinik behandeln ließ. Aber diese Sache hatte noch andere Aspekte gehabt, und er widersteht dem Verlangen. Anton ist fertig und schweigt. Dann muß er sich entkleiden. Die Therapeutin betrachtet eingehend Antons Figur, von allen Seiten, gewiß kein Vergnügen. Dann muß er sich auf einer Therapieliege ausstrecken, und sie untersucht seine Wirbelsäule und betastet seinen Bauch. 

    Schließlich ist sie fertig. Anton zieht sich wieder an, und die Therapeutin hält ihm einen langen Vortrag über den schlechten Zustand seiner inneren Organe und seines Stützapparates. Anton versteht nur die Hälfte, aber die reicht aus, um ihn völlig fertig zu machen. Sie erklärt sein Stoffwechseldurcheinander zum Kern des Problems.
    „Na, das ist aber einfach“, denkt Anton, aber er sagt nichts.
Dann fragt sie nach seinen Blutwerten, nach der Liste seiner Medikamente und nach dem Operationsbericht. Anton verspricht, sich darum zu kümmern. Dann überlegt er, was seine Hausärztin und sein behandelnder Endokrinologe, Doktor Schulze, sagen werden, wenn sie erfahren, daß er die Unterlagen für eine Heilpraktikerin haben möchte, und ihm wird unbehaglich.
    Die Sitzung hat über eine Stunde gedauert. Die Therapeutin nötigt ihn in den Massagesessel, und obwohl Anton keinen Bedarf spürt, setzt er sich brav hinein, und sie erklärt ihm die Bedienung. Dann verabschiedet sie sich, eine weitere Patientin wartet schon. Die Rückenlehne nach hinten geklappt und die Füße auf der ausgefahrenen Stütze, ganz wie bei Bettina daheim, überdenkt er seine Lage. Er fühlt sich ausgehöhlt und leer, sein Selbstbewußtsein ist im Eimer, und er weiß nicht einmal, warum. Der Drang zum Weinen, den er so haßt, ist plötzlich wieder da. Er betrachtet die Uhr an der Wand und die Werkbundschränke. Die Beruhigungs-Musik läuft noch immer, und er verspürt den Wunsch einfach zu schlafen. Aber da überkommt ihn, Gott sei Dank, wieder die Neugier. Er probiert die Funktionen des Sessels aus. Er findet den Knopf für eine sanfte Massage der Muskeln um die Lendenwirbelsäule herum, und das gefällt ihm. Also läßt er sich ein paar Minuten massieren. Dann erhebt er sich aus dem Sessel, zieht seine Jacke an, steigt die Treppe hinab und verläßt das Puppenhaus. Bettina wartet schon. Auf der Rückfahrt sagt er kaum ein Wort, und Bettina fragt auch nicht. Sie erzählt ihm, was sie inzwischen für lustige Dinge getrieben hat, und Anton brummt vor sich hin. Ihm ist nicht zum Sprechen zumute, und er wird zwei Tage brauchen, um sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden.

 

© April 2011

 

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