Bindseil sucht den Klöppelsack

Bindseil sucht den Klöppelsack 

von Bernd Mai

Die Beerdigung meiner Großtante Mimmi findet auf dem Südfriedhof statt. Ein langjähriger Nachbar Mimmis und ich sind die einzigen Trauergäste. Der Nachbar ist sturzbetrunken, und ich habe Sorge, daß er während der Zeremonie zusammenklappt. Also besorge ich ihm am Kiosk vor dem Friedhof einen Flachmann, der hilft ihm durchzuhalten. Der weltliche Grabredner macht es kurz, und gerade, als er sich vor dem offenen Urnengrab verneigt, kommt ein Mann in einem Rollstuhl in schneller Fahrt den Friedhofsweg herunter und steuert auf Tante Mimmis Grabstelle zu. Ein paar Meter hinter ihm läuft eine Frau mittleren Alters, die bemüht ist, ihn einzuholen. Ich mache den Grabredner auf den Mann im Rollstuhl aufmerksam. Er hält inne, sieht mich fragend an, und als der Rollstuhlfahrer heran ist, nicke ich dem Redner zu, der daraufhin die Zeremonie planmäßig beendet. Dann schüttelt er mir als nächstem Verwandten die Hand, setzt seinen Hut auf und verschwindet diskret. Ich drücke dem Nachbarn einen Zwanziger in die Hand, und ich sage ihm, aber mehr der Form halber, er möge ihn nicht gleich versaufen, worauf er sich eilig trollt.

Der Mann im Rollstuhl ist alt und hager. Er trägt trotz der Juniwärme einen abgetragenen Mantel und einen speckigen Hut unbestimmbarer Form. Die einzigen Kleidungsstücke an ihm, die einen respektablen Eindruck machen, sind seine makellosen, blankgeputzten Schuhe. Seine Haut ist grau und faltig, und unter seinen Augen hängen große Tränensäcke. Aus seinen Ohren wachsen graue Haarbüschel. Er nimmt seinen Hut ab und schaut, ohne mich zu beachten, stumm in das offene Grab, nur seine Lippen bewegen sich, als spräche er ein stilles Gebet. Dabei ist die Tante Zeit ihres Lebens Atheistin gewesen, spätestens jedoch, nachdem sie 1953 mit einem russischen Leutnant ein Verhältnis eingegangen war. Der Leutnant, er hieß Pawel Lewitan, hatte mit seinem Nagant-Revolver eine Horde Randalierer vertrieben, die das Leipziger Büro des Verbandes Bildender Künstler zu stürmen versuchte. Er diente bei der Stadtkommandantur, Abteilung Kunst und Kultur, und hatte zufällig im Verband zu tun. Das Tantchen war zu jener Zeit als Sachbearbeiterin beim Verband beschäftigt. Mein Vater muß den Leutnant gut gekannt haben, jedenfalls nannte er ihn immer nur „Paschka“, wenn er die Geschichte zum Besten gab. Paschka ist 1956 nach Ungarn versetzt worden, wo er in Budafok von einem Aufständischen erschossen worden sein soll.

Die Frau ist ein paar Meter vom Grab entfernt stehen geblieben und schaut uns schweigend zu. Vom schnellen Laufen atmet sie schwer. Stille. Ich räuspere mich. Die Frau ist zögernd näher gekommen. Der Alte setzt seinen Hut auf, packt die Greifringe und drehte den Rollstuhl auf der Stelle, um sich zu entfernen. Seine Hände und Handgelenke sind sehnig und kräftig.
„Moment“, sage ich. „Sind Sie hier bei der richtigen Beerdigung?“ Er dreht den Rollstuhl in meine Richtung, schaut mich an und sagte: „Ernst Krause-Eutritzsch mein Name. Künstler. Ist das nicht Mimmi Bindseils Beerdigung?“ Seine Stimme klingt schrill und brüchig.
„Doch.“
„Na also.“ Er macht Anstalten wegzufahren, zögert jedoch. Irgend etwas beschäftigt ihn.
Meine Neugier ist geweckt. „Bodo Bindseil. Ich bin Tante Mimmis Großneffe. Ich lade Sie zu einem Glas zum Andenken an die Verstorbene ein. Und Sie natürlich auch“, sage ich, und ich schaue seine Begleiterin an.
„Sie ist bloß die Ein-Euro-Kraft“, sagt der Alte verächtlich.
Ich werde wütend. „Sie beide, oder gehen Sie zum Teufel!“
Er zögert. „Na los“, herrscht er die Frau an, und zu mir: „Worauf warten wir noch? Ich muß sowieso mit Ihnen reden.“ Die Frau packt die Schiebegriffe und bugsiert den Rollstuhl zurück auf den Weg.

Nicht weit vom Friedhof befindet sich das Lokal „Zur Letzten Ruhe“, das wir aufsuchen. Der Alte schimpft, weil der Zugang nicht für Rollstuhlfahrer gemacht ist, und er schnauzt seine Begleiterin und den Kellner an, der herzugesprungen ist, um zu helfen. Ich suche uns einen Tisch aus und denke darüber nach, was ich tun könnte, falls es ihm in den Sinn kommt, auch mich anzuschnauzen. Ich habe keine Lust mehr, höflich zu sein und bestelle einfach Bier und Korn.
„Und? Was möchten Sie trinken?“ fragt ich die Frau. „Ein Glas Wein?“
„Die ist im Dienst!“ blafft der Alte.
Ich nehme mich zusammen, und ich schaue die Frau weiterhin fragend und freundlich an. Der Kellner steht abwartend neben mir, ganz altmodisch hat er Block und Stift gezückt. Sie nickt zögernd.
„Bringen Sie der Dame bitte einen Schoppen Wein.“
„Zwei Bier, zwei Korn, ein Schöppchen für die Dame. Sehr wohl der Herr.“
„Also, Herr …“, beginne ich.
„Krause-Eutritzsch. Künstler.“ Seine Brust strafft sich.
„Herr Krause-Eutritzsch, richtig. Was kann ich für Sie tun?“
Der Kellner bringt die Getränke.
„Geben Sie mir, was mir gehört“, sagt Krause-Eutritzsch, als der Kellner sich entfernt hat.
„Und was soll das sein?“
„Der Klöppelsack.“
„Was?“
„Der Klöppelsack. Sie hat ihn mir versprochen.“
Ich habe Tantchens Wohnung ausräumen lassen und vorher alles genau inspiziert. Fotoalben, Briefe, Papiere, Unterlagen aller Art, natürlich ihre Bücher, Grafiken und Bilder, den Schmuck und alle ungewöhnlichen Dinge – zum Beispiel ein russisches Feuerzeug mit dem Konterfei Stalins – habe ich penibel aufgelistet und selbst abtransportiert. Ein Klöppelsack ist nicht dabei gewesen, er wäre mir aufgefallen. Tantchen hatte verschiedene Liebhabereien, aber aus Handarbeiten hat sie sich nie etwas gemacht.
„Da war kein Klöppelsack.“
„Wie?“
„Kein Klöppelsack, kein Zubehör, nichts. Bestimmt.“
Ich proste der Frau zu und ein spreche ein paar Worte des Gedenkens an Mimmi Bindseil. Der Alte hat nicht darauf gewartet und sich den Korn gleich hinter die Binde gekippt. Er nippt an seinem Bier.
„Wenn jemand ‚bestimmt‘ sagt, um dich zu überzeugen, dann lügt er!“ Auf seinem Gesicht erscheinen rote Flecken.
Ich bin sprachlos.
„So ein rundes Ding aus grauem Leinen, etwa so groß. Als ich das letzte Mal bei ihr gewesen bin, war es noch da.“ Er zeigt mit den Händen, wie groß ich mir den Klöppelsack vorzustellen hätte.
„Wann war das?“ frage ich ihn. Dann denke ich darüber nach, wie ich den bösen alten Mann am schnellsten loswerden kann. Die Frau spielt gewissenhaft ihre Rolle als unbeteiligte und unterbezahlte Pflegekraft.
„Das ist schon lange her“, sagt er, und er sieht aus, als würde er angestrengt nachdenken.
„Also, wann?“
„Vor zehn Jahren, oder zwölf“, sagt er zögernd. „Ich weiß es nicht mehr. Und es tut auch nichts zur Sache!“ Er schaut mich wütend an.
Ich verspreche ihm, noch einmal den gesamten Nachlaß durchzugehen. Dann lasse ich mir seine Adresse geben und bezahle die Rechnung. Ich verabschiede mich knapp, verlasse das Lokal und fahre nach Hause, in mein neues Zuhause am Ostrand der Stadt.

Zu Hause schalte ich den Computer ein und google nach „klöppeln“. Vor allem interessiert mich, woraus so ein Klöppelsack gemacht ist. Zuerst aber lerne ich, daß ein Klöppelsack hierzulande eher ein Klöppelkissen ist. Es ist im Prinzip ein zylindrischer Kissenbezug aus Leinen, der mit Sägespänen, Heu oder Ähnlichem gefüllt ist. So ein Kissen muß hin und wieder nachgefüllt werden. Maschinell gestopfte Kissen sind besser als von Hand gestopfte, in anderen Ländern benutzt man Flachkissen, neuerdings verwendet man auch neuzeitliche Plastikmaterialien wie Styropor, das man mit Filz und Stoff abpolstert … Das reicht.

Tantchens ‚ungewöhnliche Dinge‘ habe ich in einen großen Deckelkorb gepackt, und der Korb blockiert die Hälfte meiner Kellerbox. Ich nehme eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank und gehe in den Keller. In meiner Kellerbox klappe ich den Anglerstuhl auf, der dort neben ein paar Angelruten, einem alten Drucker, etwas Malerwerkzeug und anderem alten Kleinkram herumliegt, setze mich zurecht, öffne die Bierflasche und beginne den Inhalt des Korbes zu untersuchen. Vielleicht habe ich ja irgendetwas übersehen. Als ich die Bücher der Tante in meinen Bestand einordnete, war mir zuerst auch etwas wichtiges entgangen. Erst beim zweiten Hinsehen entdeckte ich ein Exemplar von Leonows „Der Dieb“ von 1928, zwei Bände, die erste deutsche und noch unzensierter Ausgabe. Das russische Feuerzeug mit dem Konterfei Stalins liegt ganz oben. Eine Luftschutztaschenlampe, die noch funktionsfähig ist, ein paar Gegenstände, deren Zweck nicht zu erkennen ist, ein Zeitungshalter, eine Buchstütze – na, die nehmen wir doch mit nach oben! -, ein Schnapsfäßchen aus Keramik, ein Detektorradio, ein Federkasten mit Federhaltern und Stahlfedern, ein Mitgliedsausweis des BDM, ein HJ-Dolch, die Kokarde einer russischen Offiziersmütze, ein Zigarettenetui aus Holz, eine Zigarettendrehmaschine, eine kurze Stummeltabakspfeife – sie stinkt erbärmlich, eine Brieftasche – ein Foto von Pawel, dem russischen Leutnant, steckt noch drin – und so weiter. Lauter alte und verstaubte – und vor allem männliche – Dinge, die sie aus irgendeinem Grund aufgehoben hat. Der junge russische Leutnant auf dem vergilbten Schwarzweißfoto, ein hübscher Bursche, der die Mütze nach Kosakenart verwegen schräg auf dem Kopf trägt, schaut aus, als hätte man ihn gerade beim Klauen erwischt. Sowjetischer Leutnant, sage ich mir, ’sowjetisch‘ mußte es politisch korrekt heißen, dabei kannten wir diesen Ausdruck gar nicht. Ich untersuche die Brieftasche genauer, und ich finde in einem Geheimfach einen kleinen beschriebenen Zettel. Der Text ist in kyrillischer Schrift mit violetter Tinte geschrieben und halb verblaßt. Ich stecke ihn mit dem Foto vorsichtig wieder in die Brieftasche, und die Brieftasche stecke ich ein. Kein Klöppelsack, kein Klöppelzubehör, keine Klöppelbriefe, nichts. Nicht einmal eine ganz gewöhnliche Docke mit Stopfgarn, die Tante hatte es eben nicht mit der Handarbeit! Ich räume die ‚ungewöhnlichen Dinge‘ wieder in den Korb, klappe den Anglerstuhl zusammen und gehe zurück in meine Wohnung.

Ich gehe noch einmal in Gedanken alle Schränke, Kommoden und Regale der Tante durch, und ich zermartere mir den Kopf. Hat der böse alte Mann soviel Mühe überhaupt verdient? Wieso ist dem Alten ein ganz gewöhnlicher Klöppelsack so wichtig? Und wieso hat die Tante ihm den Sack überhaupt versprochen? Oder will mich der Alte aufs Glatteis führen? Der Sack ist nicht da, da beißt die Maus keinen Faden ab. Aber vielleicht findet sich eine Spur von ihm …

Ich nehme die beiden Fotoalben der Tante aus dem Regal, wo ich sie vor ein paar Wochen achtlos hineingestellt habe. Jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, sie zu sichten. Die Alben sind zeitlich streng getrennt. Das erste enthält Fotos aus den dreißiger und vierziger Jahren. Mimmi als Kind, Mimmi mit der Zuckertüte, Mimmi als Schülerin, Mimmi in BDM-Uniform. Mimmi mit ihren Eltern, also meinen Urgroßeltern, beim „Kraft-durch-Freude“-Ausflug ins Rheinland und an die Ostsee. Tante Mimmi war ein Nachzügler, mein Großvater Erich, ihr Bruder, war zu jener Zeit schon aus dem Haus. Und dann Mimmi vor den Ruinen der Universität und vor der großen Stalinstatue am Karl-Marx-Platz. Mimmi als Lehrmädchen im Blauhemd bei der Maidemonstration Aber da war sie schon ein Backfisch, und sie war ein hübsches Ding mit ordentlich Holz vor der Hütten. Das kam im Blauhemd besonders gut zur Geltung. Es sind keine Bilder dabei, die in einer Wohnung aufgenommen worden sind. Ich nehme das andere Album zur Hand. Gleich das erste Bild ist eine Innenaufnahme. Es zeigt die Angestellten des Verbandes Bildender Künstler, Bezirksverband Leipzig, und etliche Künstler bei einer Versammlung, so sagt es der handgeschriebene Text unter dem Foto. Ich glaube den ein oder anderen wiederzuerkennen. Vorn links, mit finsterem Gesicht, das muß Wolfram Malheur als junger Mann sein. Am Rednerpult steht Tante Mimmi im Blauhemd. Sie hat die rechte Faust geballt und fuchtelt kämpferisch damit über dem Mikrofon herum. Es ist eins von den riesigen alten Kondensatormikrofonen, und es ist für die kleine Mimmi viel zu hoch angebracht. Hinter ihr an der Wand ist eine Losung befestigt, auf der ich einen bruchstückhaften Text erkenne. Ich hole eine Lupe und schaue genauer hin. „… IV. Parteita …“ entziffere ich. Wir sind also im Jahre 1954, stelle ich später fest. Malheur guckt mißtrauisch vor sich hin. Ich glaube noch einen anderen bekannten Künstler zu erkennen. Ein paar Plätze neben Malheur sitzt ein Mann, der nur Koeppke sein kann. Er sah schon damals so durchgeistigt aus. In Mimmis Nachlaß fand sich ein Kinderbuch, das er mit lustigen Illustrationen versehen hatte. Es hat in meinem Regal neben dem „Dieb“ einen Ehrenplatz bekommen. Das Foto ist von professioneller Qualität, und es ist wahrscheinlich für das Mitteilungsblatt des Verbandes bestimmt gewesen.

Ich blättere weiter. Es folgen Fotos, auf denen hauptsächlich Mimmi, mal im luftigen Sommerkleid, mal im Blauhemd, zu sehen ist. Beim Tanz mit sowjetischen Soldaten, aber ihr Tänzer ist nicht Paschka, bei einem Betriebsausflug mit Kollegen und Verbandsmitgliedern, bei einer Maidemonstration, mal mit anderen jungen Mädchen, mal mit ein paar Bereitschaftspolizisten vor einem Panzerspähwagen, mal mit einer Gruppe chinesischer Studenten. Die handgeschriebenen Erläuterungen werden immer knapper und immer seltener. Dann folgt eine leere Seite, und danach folgen hauptsächlich Fotos von jungen Männern, von hübschen jungen Männern mit sorgfältig frisierten Haaren, der Mode der jeweiligen Zeit entsprechend, und ein Friseurlehrling von heute könnte etwas daraus lernen. Ich ziehe ein paar der Bilder aus den Fotoecken und drehe sie um. „Meiner kleinen Mimmi zum Andenken. H.“, „Für mein Sternchen. Dein Günter.“, und so weiter. Drei Fotos fallen etwas aus dem Rahmen. Es sind typische Schauspielerfotos von einem Burschen, der mir bekannt vorkommt. Sie zeigen ihn in drei verschiedenen Rollen, in Maske und Kostüm, als Karl Moor, als Ferdinand und als Pawel Kortschagin. Aber dann ist da noch ein Autogrammfoto, und jetzt erkenne ich ihn. Früher war er an den Leipziger Bühnen der Jugendliche Liebhaber, jetzt ist er der Star einer Seifenoper des Mitteldeutschen Rundfunks. Na guck an, das Tantchen, denke ich. Der Text auf der Rückseite ist eher melancholisch: „Meiner liebreizenden Mimmi. Es wär‘ so schön gewesen, es hat nicht sollen sein …“, kein Name. Danach finde ich endlich, was ich gesucht habe: Innenaufnahmen, die in in verschiedenen Räumen gemacht worden sind. Geburtstage, Geselligkeiten irgendwelcher Art mit irgendwelchen Leuten, Weihnachtsfeiern, und immer wieder Bilder, von denen ich glaube, daß sie in Mimmis Wohnung geschossen worden sind. Die nehme ich heraus und lege sie auf einen Häufchen, und am Ende ist es ein stattlicher Stapel. Die letzten Bilder des Albums sehen aus, als wären sie in den achtziger Jahren entstanden.

Ich setze mich mit den ausgewählten Bildern an meinen Eßtisch und schalte alle Lampen ein. Dann untersuche ich jedes einzelne Foto mit der Lupe. Zwei Bilder kann ich aussortieren, die sind nicht in Mimmis Wohnung gemacht worden. Aber die anderen, die anderen zeigen immer die selbe Wohnzimmereinrichtung. Die Einrichtung wechselt, wahrscheinlich in den siebziger Jahren, aber ein paar der Einrichtungsgegenstände sind auf allen Bildern die selben. Besonders ein Eckregal mit fünf Borden erregt meine Aufmerksamkeit. Es enthält keine Bücher, sonder Glas und Porzellan, Vasen und Figuren, das Messemännchen, einen Burattino und eine Matrjoschka. Ich sehe mir alle Fotos, auf denen das Regal zu sehen ist noch einmal genauer an. Und dann werde ich fündig. Auf zwei der Bilder stehen auf dem mittleren Bord zwei Gegenstände, die beide das gesuchte Klöppelkissen sein könnten. Ich suche noch einmal in der Masse der Bilder des zweiten Albums. Und dann finde ich tatsächlich ein Foto, auf dem das Regal scharf und deutlich abgebildet ist. Es steckt hinter dem Porträtfoto eines jungen Mannes, deshalb war es mir beim ersten Durchsuchen entgangen. Es sind lauter offenbar angeheiterte Leute auf dem Bild zu sehen, in deren Mitte Tante Mimmi als Partykönigin glänzt. Vielleicht hatte sie Geburtstag. Ich erkenne den Jugendlichen Liebhaber der Leipziger Bühnen Arm in Arm mit der Jugendlichen Naiven, und neben Mimmi sitzt ein grimmig ausschauender junger Mann, den ich auch schon einmal gesehen habe. Am rechten Bildrand sieht man das Regal. Im mittleren Bord sind auch ohne Lupe ein Klöppelsack und ein Schnapsfäßchen aus Keramik zu erkennen. Man sieht auf dem Klöppelkissen sogar die Stecknadeln, die Klöppel und den Klöppelbrief, und am Untergestell des Schnapsfäßchens hängen die Schnapskrüglein an winzigen Henkelchen, alles sehr hübsch und dekorativ angeordnet. Das Foto ist erstaunlich scharf und feinkörnig, vielleicht wurde es mit einer Praktisix auf einem Rollfilm aufgenommen, und der Fotograf ist wahrscheinlich ein Profi gewesen.

Aber wer ist der grimmige junge Mann? Ich halte das Portrait, hinter dem das Regalbild versteckt war, und das Foto mit dem Regal nebeneinander und nehme die Lupe zu Hilfe. Kein Zweifel, das ist der Grimmige. Ich drehe es um und lese „Dein Ernst für die Ewigkeit“. Ernst Krause-Eutritzsch, so sieht man sich wieder! Beim genaueren Hinsehen ist zu erkennen, daß das Regal-Bild genau auf die Größe des Portraits zugeschnitten worden ist. Die linke Seite und der obere Teil wurden sorgfältig, wahrscheinlich mit einer Papierschneidemaschine, abgetrennt, man sieht Arme, Hände und halbe Körper. Das für den Bildaufbau völlig überflüssige Regal ist jedoch vollständig erhalten. Tantchen war nicht nur ein flotter Feger, sondern hatte es auch faustdick hinter den Ohren. Das Schnapsfäßchen gleicht aufs Haar dem, das ich unter den ‚ungewöhnlichen Dingen‘ gefunden habe, nur das Untergestell und die Schnapskrüglein fehlen.

Es ist spät geworden. Ich stecke die drei Indiz-Fotos in einen Umschlag und beschließe, die Dinge morgen weiterzuverfolgen. Dann telefoniere ich mit Sieglinde. Sie hat beschlossen, sich am Wochenende um die Gardinen für meine neue Wohnung zu kümmern, und es hat keinen Sinn, sie davon abbringen zu wollen. Ich erzähle ihr, was mir heute widerfahren ist, und sie heuchelt Interesse. Dann besprechen wir den Speiseplan. Ich werde Kartoffelsuppe und Ossobuco machen, außerdem Zitronencreme – mit richtig viel Sahne, aber das behalte ich für mich. Nachdem wir uns verabschiedet haben, gönne ich mir einen Nordhäuser, dann gehe ich zu Bett.

Am anderen Morgen bin ich zeitig auf dem Betriebshof der Wohnungsgenossenschaft „Konnex eG“ in der Senftenberger Straße. Ich parke mein Auto, steige aus und schlendere hinüber zum Sozialgebäude. Es hat ein Souterrain, in dem sich mein Büro befindet. Arbeiter stehen in kleinen Grüppchen herum, schwatzen und rauchen die letzte Zigarette, bevor es losgeht. Ich grüße freundlich, und man erwidert meinen Gruß. Sie sind aber immer noch neugierig und fragen sich, was ich denn für ein bunter Hund sei. Besonders die weiblichen Büroangestellten. Gleich am ersten Tag drangen sie ohne anzuklopfen in mein Büro ein und stellten allerlei listige Fragen. Durch Sieglinde, Frau Mayer, erster Stock, ließ ich ausstreuen, daß ich ein ehrbares Gewerbe betreibe und für das Büro und die Möbel Miete bezahle. Das half. Ich habe ein kleines Messingschild an meiner Tür anbringen lassen: „Bodo Bindseil, Ermittlungen“. Ich beantragte einen eigenen Telefonanschluß bei der Großen Telefongesellschaft, auf den ich aber noch warte. Bis er gelegt ist, darf ich das Netz der Konnex eG benutzen, aber ich verzichte darauf und telefoniere lieber mit dem Handy. Ich muß auch nicht faxen, und alle wichtigen Internetrecherchen erledige ich momentan noch von zuhause aus. Aber heute habe ich zu arbeiten, ich muß Berichte und Rechnungen schreiben. Einen Heizungsmonteur konnte ich der Schwarzarbeit überführen, während er offiziell krank geschrieben war, und einem Familienvater mit drei kleinen Kindern konnte ich die Mitgliedschaft in einem Kinderpornoring nachweisen, eine besonders schwierige und ekelhafte Angelegenheit. Besonders, weil ich selbst in den Ring eindringen mußte. Wegen dieser Sache werde ich demnächst auch vor Gericht aussagen müssen. So etwas schlaucht, und ich habe mir eine Pause verdient. Am liebsten bearbeite ich Wirtschaftssachen, das habe ich von der Pike auf gelernt, aber die betroffenen Firmen beauftragen lieber große renommierte Spezialagenturen. Dabei ist meine Ausbildung sehr gründlich gewesen, und wenn man nicht fragt, erzähle ich niemandem, wo ich es gelernt habe. Ich schließe mein Büro auf, und ich schalte meinen Computer ein. Es ist ein altes Gerät, aber für die tägliche Routinearbeit wie Textverarbeitung, Tabellenkalkulation und Fakturierung bestens geeignet. Kurz vor neun schaut Sieglinde herein. Wir begrüßen uns und wechseln ein paar Worte, bevor sie eilig hinauf in den ersten Stock steigt, um über die laufende Buchhaltung der Genossenschaft zu wachen. Wir geben uns keine Mühe, unsere Beziehung zu verheimlichen, aber wir stellen sie nicht zur Schau. Aber einmal kam Grünert, er ist hier der Vorstand, überraschend in mein Büro, auch ohne anzuklopfen, und fragte nach meinen persönlichen Kontakten zu Frau Mayer, erster Stock. Zunächst versicherte ich ihm, daß unsere Beziehung nicht die Arbeit seiner besten Kraft beeinträchtigen würde. Und dann erinnerte ich ihn diskret daran, daß ich als Firma Bindseil kein Mündel der Genossenschaft mit geduldetem Aufenthaltsrecht, sondern Mieter und damit zahlender Kunde sei. Den Mietvertrag habe er selbst unterschrieben. Er nickte, paffte ein paar Wölkchen aromatischen Tabakrauchs in die Luft, drehte sich um und verschwand wortlos. Im Erdgeschoß des Bürogebäudes gibt es nämlich einen Raum, der von einem wohltätigen Verein als Büro genutzt wird. Sie bezahlen keine Miete, dürfen das Telefon kostenlos benutzen, und ihre umfangreichen Korrespondenz mit Spendern und Mitgliedern wird von der Genossenschaft finanziert. Die Versammlungen des Vereins finden regelmäßig im Saal des Sozialgebäudes statt. Den augenblicklichen „Herrn Büro“ des Vereins habe ich schon kennengelernt. Er ist eine ABM-Kraft von Mitte fünfzig, gelernter Stahlbauingenieur, und er ist schon fünf Jahre arbeitslos. Sein Name ist Wolfgang Schulze.

Gegen Mittag bin ich fertig, und ich kaufe mir in der Kantine ein Wurstbrötchen. Dort treffe ich Schulze, und ich lade ihn zu einem Tee ein. Wir sitzen an meinem Schreibtisch, essen unsere Brötchen und trinken Tee. Dann hole ich ein paar von Tante Mimmis Fotos hervor und zeige sie ihm. Ob ihm das bekannt vorkäme, frage ich. Er schaut sich die Bilder interessiert an. Das Foto, auf dem die Stalinstatue am Karl-Marx-Platz zu sehen ist, interessiert ihn besonders.
„Daran kann ich mich nicht erinnern“, sagt er. „Ich war noch ein Kind. Aber das da“, er zeigt auf die Ruinen der Universität, „das da kenne ich noch.“ Auf einem anderen Bild ist die Ruine des Neuen Theaters zu sehen, an deren Stelle ein paar Jahre später das Opernhaus gebaut wurde. „Daran kann ich mich auch erinnern. Und an die Panzer vor dem Hauptbahnhof. Wenn wir mit der Straßenbahn vorbeifuhren, verrenkten sich alle die Hälse und versperrten uns Kindern die Sicht. Deshalb ist das keine gesicherte Erinnerung, sondern bloß … eine Ahnung.“ Er lächelt. „Und ich weiß, daß mein Vater ein paar Tage nicht zu Hause gewesen ist“, fährt er fort. „Sie müßten den Betrieb schützen, hatte er gesagt. Und zum nächsten 1. Mai sind sie in ihren blauen Arbeitskombis und mit den blauen Schirmmützen und den roten Armbinden marschiert. Aber damals noch ohne Waffen. Eigentlich sind wir pazifistisch erzogen worden. ‚Kein Deutscher wird je wieder eine Waffe anfassen!‘ hieß es. Und von da an war mein Vater für mich ein anderer Mensch.“ Die Bilder von den privaten und offiziellen Geselligkeiten langweilen ihn, und ich bedanke mich. Er hätte sowieso zu tun, er müsse heute noch fünfhundert Einladungen eintüten und versandfertig machen, sagt Schulze. Wir verabschieden uns. Ich bleibe der Form halber noch eine Stunde im Büro, aber es kommt niemand, der meine Dienste benötigt. Dann fahre ich nach Hause.

Zu Hause nehme ich mir ein Bier und gieße mir einen Korn ein. Ich setze mich vor den Computer und gehe ins Internet. Ich google nach „franz krause-eutritzsch künstler“, und ich werde fündig. Ein paar biographische Angaben, Krause stammt aus Leipzig, Vertreter des Sozialistischen Realismus, Grafiker, Maler, Preise und Auszeichnungen und so weiter. Na, immerhin. Dann suche ich nach Bildmaterial, und auch dieses Mal finde ich etwas. Zunächst ein Selbstbildnis von 1948. Ein ernster junger Mann schaut am Betrachter vorbei, der Stil ist deutlich an dem der Neuen Sachlichkeit angelehnt. Ich schaue weiter. Anfang der fünfziger Jahre verändert sich sein Stil. Arbeiter und Bauern, die neuen Helden der Kunst, werden von ihm abgebildet, aber sie wirken immer noch, als könnten sie nicht so recht an ihre neue Rolle glauben. Anfang der sechziger Jahre ein erneuter Wandel in Krauses Stil. Die Bilder werden plakativ und die abgebildeten Menschen erinnern an die Werbung im DFF und in den Illustrierten. Ich runzele die Stirn und suche weiter. Aus den siebziger Jahren finde ich nur noch plattes Gepinsele und Gebrauchswerbung. „Nimm ein Ei mehr!“ wirbt eine hübsche junge Frau mit einem bäuerlich-rustikal gebunden Kopftuch für die KIM, das Kombinat für Industrielle Mast. Sie hatten gerade die Hühnermassenhaltung erfunden, und von da an gab es frische Eier auch im Winter zu kaufen. Ich werde Schulze fragen, der weiß bestimmt mehr. Krause-Eutritzsch war kein Dissident und kein Rebell, auch Krause-Eutritzsch mußte Miete bezahlen, essen und trinken und seine Blöße bedecken. Jetzt lebt er im Nexö-Heim in Reudnitz-Thonberg, das steht so auf dem Zettel, den mir seine Begleiterin gekritzelt hat. Ich habe genug gesehen und schalte den Computer aus. Ich gieße mir ein weiteres Bier ein und denke nach. Immer wenn ich das tue, muß ich an Grünerts verdammte Tabakspfeifen und an den aromatischen Duft seiner Tabaks denken.

Dann gehe ich in den Keller und hole das Schnapsfäßchen aus Keramik herauf. Ich stelle es auf den Tisch und betrachte es in Ruhe. Ich ziehe den Zapfhahn heraus, was ohne Mühe gelingt, aber das Loch, in dem er steckt, ist sehr klein. Dann entferne ich den Einfüllstöpsel, es geht ebenfalls leichter, als ich gedacht hatte, und betrachte die Einfüllöffnung. Sie ist so groß, daß auch ein beschwipster Mensch ohne Mühe eine Flasche Schnaps oder Likör hineinschütten kann. Ich schnüffle an der Öffnung, aber ich rieche nichts. Ich hole mein Multiwerkzeug, an dem sich eine dünne LED-Lampe befindet, und leuchte hinein. Ich sehe etwas Helles blinken. Dann hole ich einen Hammer und zerschlage das Fäßchen. Zwischen den Scherben finde ich eine Rolle aus Papier, die mit Sternchenzwirn zusammengebunden ist.

Ich zerschneide den Zwirnsfaden, die Rolle öffnet sich, und ich finde lauter eng beschriebene Blätter im A-5-Format. Ich zähle die Blätter, es sind 17 Stück, und sie sind alle in der gleichen Art und Weise beschriftet: Oben links eine Überschrift, oben rechts ein Datum, unten rechts eine Unterschrift. Ich sortiere sie nach dem Datum, das erste ist der 25.8.1957, das letzte der 17.1.1966. Die Schrift ist ordentlich und gleichmäßig, und obwohl Graphologie nicht mein Spezialgebiet ist, glaube ich zu erkennen, daß der Schreiber sehr beherrscht ist und einen ausgeprägten Ordnungssinn hat, vielleicht ist er ein wenig introvertiert. Interessant sind die Überschriften: „Nach der Versammlung 3“, „Feier 26“, „Ausflug 19“, „Pause 47“ und so weiter. Alle Blätter sind mit „Dix“ unterschrieben, das „D“ ist wuchtig und überragt die beiden anderen Buchstaben erheblich, der I-Punkt fehlt meistens. Und dann beginne ich zu lesen. Es sind Gedächtnisprotokolle von Versammlungen, Feiern und immer wieder von geselligen Abenden im kleineren und größeren Kreis, die Anzahl der beteiligten Personen ist meist im ersten Satz vermerkt. Namen werden nicht genannt, immer nur Großbuchstaben mit Punkt, manchmal steht eine Ziffer dahinter, zum Beispiel „M.2“ oder „Z.1“, der Sinn erscheint mir klar. Die Zahlen in den Überschriften werden ein Code sein, den nur der Schreiber und der, für den die Texte bestimmt waren, kannten. Der Schreiber gibt keine Wertung und kein Urteil ab, er zitiert Äußerungen in der indirekten Rede aus dem Gedächtnis, sein Stil ist geschraubt, und er hatte Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung. So schreibt er zum Beispiel am 26.7.1962 auf einem „Umtrunk 44“ betitelten Blatt: „Infolge des hohen Konsums an alkoholischen Getränken (Bier, Nordhäuser Korn, Rumenischer Weinbrannt usw.) hatte die ganze Runde den vortgeschrittenen Stadium des Betrinkens erreicht. W. sagte, daß das Nichtvorhandensein von Fleisch und Wurst in unseren volkseigenen Einzelhandelsgeschäften eine Folge der allgemeinen Kolektivierung in der sozialistischen Landwirtschaft wäre.“ Ich habe so etwas noch nie gesehen, aber im Rahmen meiner Ausbildung an der Juristischen Fachschule hörte ich natürlich davon. Mich wundert, daß der IM, um einen solchen handelt es sich offensichtlich, seine Berichte selbst schrieb. Für gewöhnlich berichteten sie ihren Führungsoffizieren in einer konspirativen Wohnung mündlich. Und ich frage mich, wie diese Original-Dokumente in Tante Mimmis Besitz gekommen sind. Meinen Vater, der das hätte wissen können, kann ich nicht mehr fragen. Ich suche das Portraitfoto von Franz Krause-Eutritzsch heraus und vergleiche die Schrift der Widmung „Dein Ernst für die Ewigkeit“ mit der Schrift der Berichte. Kein Zweifel, sie sind von Franz Krause-Eutritzsch geschrieben worden.

Die nächsten Tage bin ich mit der Suche nach einem verschwundenen Ehemann beschäftigt. Ich muß ins Ruhrgebiet fahren, ein altes Stahlwerk besichtigen und mich mit moderner Kunst befassen. Ich finde zwar den Ehemann, aber die Polizei ist schneller gewesen als ich. Das ist für einen alten Privatschnüffler unbefriedigend, aber es vereinfacht den Fall ungemein. Ich verfasse meinen Bericht und schreibe die Rechnung, dann kann ich mich wieder meinem eigenem Fall widmen. Ich kopiere die Berichte des IM, wickle die Blätter straff zu einer Rolle und binde sie wieder zusammen. Sie sieht fast genauso aus, wie ich sie in dem Schnapsfäßchen gefunden habe. Ich stecke die Rolle ein und fahre nach Thonberg ins Nexö-Heim. Es ist das größte Heim des städtischen Pflegeunternehmens, und es stammt vom Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. In seiner jetzigen Form entstand es in den fünfziger Jahren, und ich glaube mich zu erinnern, daß es einst für verdiente Veteranen der Arbeiterbewegung reserviert gewesen ist.

Die Lobby ist hell und freundlich, am Empfang ist niemand zu sehen. Ich schlendere etwas ratlos auf und ab und betrachte ein Wandbild aus den fünfziger Jahren, es sieht aus, als könnte es von Krause stammen. Ich überlege, wann und bei welcher Gelegenheit er den Namenszusatz „Eutritzsch“ angenommen hat. Ein paar Besucher verabschieden sich von ihren Angehörigen und verlassen das Heim. Es hat keinen Sinn, ohne Orientierung in der großen Anlage herumzusuchen, deshalb setze ich mich in einen Sessel und warte. Nach einiger Zeit kommt eine kräftige junge Frau in einem blaßblauen Kittel durch die Lobby gefegt, sie hat die Hände voller Plastikkörbe, in denen Medikamente und medizinische Utensilien untergebracht sind. Das Telefon am Empfang klingelt schon eine ganze Weile. Sie stellt die Körbe hin und nimmt den Hörer ab. Sie spricht hastig und schaut ständig auf die große Uhr an der Wand. Ich stehe auf und gehe an den Tresen. Sie sieht mich zwar, aber ich habe das Gefühl, sie nimmt mich gar nicht wahr. Sie legt den Hörer auf und will wieder nach ihren Körben greifen, da spreche ich sie an.
„Guten Tag. Ich suche Herrn Krause-Eutritzsch.“
„Wen?“
„Krause-Eutritzsch, den Künstler.“
„Ich kann Ihnen im Moment auch nicht helfen. Aber hier kommt gleich jemand“, sagt sie, rafft ihre Körbe zusammen, läßt mich stehen und eilt von dannen. Ich schlendere einen Gang hinunter und gelange in den Speisesaal. Man kann ihn von der Straße aus sehen, wenn man den Fußweg seitlich am Gebäude entlanggeht und durch die großen Fenster schaut. Alles ist hell und freundlich, das Mobiliar freilich ist wie in allen Pflegeheimen. An der Wand läuft ein großer Fernseher. Auf dem Monitor hampeln ein paar volkstümliche Musikanten herum, der Ton ist abgeschaltet. Es ist keine Essenszeit, aber an einigen Tischen sitzen alte Menschen. Sie schauen mit glanzlosen Augen stumm vor sich hin. Vielleicht kämpfen sie in Gedanken noch einmal die Kämpfe ihres Lebens. Vielleicht sehen sie noch einmal ihre Kinder oder Liebsten sterben. Vielleicht tanzen sie noch einmal am siebenten Oktober im Palast der Republik zu den Klängen eines langsamen Walzers. Wer weiß das schon? In einer Ecke spielt eine Gruppe von Veteranen Karten. Sie lachen, kichern und schimpfen laut. Ich schlendere zu ihnen hinüber und grüße. Ob sie Herrn Krause, Krause-Eutritzsch, kennen würden, frage ich. Ich müsse ihn dringend in einer Erbschaftsangelegenheit sprechen. Stille.
„Sie haben es aber eilig“, sagt eine Frau. Die Alten sehen mich abwartend an.
„Ich konnte nicht eher kommen“, sage ich, und ich bin ein wenig verwirrt. „Ich mußte arbeiten. Aber jetzt bin ich ja hier. Wo finde ich ihn?“ Schweigen.
„Sind Sie ein Verwandter?“
„Nein“, ich lache. „Mehr eine Art … Bekannter.“ Ich beuge mich über den Tisch und flüstere: „Er hatte mal was mit meiner Großtante Mimmi. Aber die ist jetzt tot. Und sie hat ihm was vererbt. Das will ich ihm bringen.“ Die Alten entspannen sich und nehmen ihre Unterhaltung wieder auf.
„Zu spät“, sagt eine alte Dame mit einem Rollator.
„Was?“
„Er ist gestorben. Gestern haben sie ihn weggebracht.“
Die Bewohnerin mit dem Rollator begleitet mich zur Heimleitung. Sie müsse sich sowieso Bewegung verschaffen, sagt sie. Unterwegs erzählt sie mir ausführlich, wie Krause gestorben ist. Er sei mit seinem Rollstuhl die Treppe hinuntergestürzt und habe sich den Hals gebrochen. Die Rettung hätte nur noch seinen Tod feststellen können, das sei vorgestern gewesen. Ich verabschiede mich von ihr und wünsche ihr viel Glück beim Kartenspiel.
„Es ist wie im Leben“, sagt sie. “Es kommt nicht darauf an, welche Karten man bekommt, sondern wie man sie ausspielt.“ Sie kichert, zwinkert mir listig zu und rollt mit ihrem Apparat davon. Ich lasse mir den Tod Krauses und den Hergang von einer Dame, deren Funktionsbezeichnung ich nicht verstanden habe, bestätigen. Fremdverschulden sei ausgeschlossen. Nein, Verwandte gäbe es nicht, auch keine nahen Freunde. Nein, ich könne keinen Blick auf seine Hinterlassenschaft werfen. Ich kann sie mit guten Worten nicht überreden, aber ich strenge mich auch nicht besonders an, und mit Geld versuche ich es erst gar nicht. Ich bedanke und verabschiede mich, dann fahre ich in die Senftenberger Straße in mein Büro.

An einer Wand meines Büros steht ein Regal, in dem ich Ordner, einige Bücher, Gesetzestexte und ein paar Archivboxen aufbewahre. Ich falte eine neue Pappschachtel zusammen und beschrifte sie mit „Ungelöst – Ungeklärt – Rätselhaft“, dahinter schreibe die Jahreszahl. Dahinein lege ich die Papierrolle und die Kopien der IM-Berichte von Krause-Eutritzsch. Die Brieftasche mit Paschkas Bild und dem kleinen Zettel mit der kyrillischen Schrift lege ich auch hinein, ich habe keine Lust mehr, mich damit zu beschäftigen. Ich verstaue die Box ganz oben im Regal, setze mich in meinen Stuhl und schiele zum Regal hinüber. Ich kann die Box noch sehen. Also stehe ich auf und schiebe sie weiter nach hinten. Ich gieße mir aus meiner Spezialflasche einen großen Schluck in ein Wasserglas, dann rufe ich Schulze an. Ob er Lust hätte, mit mir einen abgeschlossenen Fall zu feiern, frage ich ihn. Aber Schulze hat keine Zeit, sein Chef, der Vereinsvorsitzende, ist gerade bei ihm. Macht nichts, denke ich, denn eigentlich gibt es ja gar nichts zu feiern.

© Bernd Mai Leipzig und Wettin-Löbejün Juli 2012

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