Sommer, Eis und große Ferien

eine Anton-Geschichte von Bernd Mai

„Anton! Du mußt aufstehen!“, ruft die Mutter aus der Küche.
Anton ist schon ein Weilchen wach und döst vor sich hin. Er dreht sich zur Wand, zieht die Bettdecke über den Kopf und stellt sich schlafend. Die Tür zum Kinderzimmer wird mit einem Ruck geöffnet, sie klemmt manchmal, und die Mutter trampelt in Straßenschuhen herein. Sie zieht Anton die Bettdecke weg.
„Aufstehen!“, ruft sie ungeduldig.
Anton ist es nicht gewöhnt, ihr zu widersprechen. Er brummelt etwas, das wie „Ferien“ klingt und will sich die Bettdecke wieder über den Kopf ziehen.
„Du mußt Eis holen! Carlsohns wollen auch ein Viertel. Na los! Oder soll ich mit dem Waschlappen kommen?“
Das muß Anton nicht ernst nehmen, aber er gibt sich einen Ruck und steht auf. Er geht ins Bad und macht flüchtig Toilette.
„Ich muß los!“, ruft die Mutter aus dem Korridor. „Frühstück steht auf dem Tisch. Und vergiß das Einkaufen nicht! Und Betten machen, und aufräumen, und die Küche fegen! Suppe steht auf dem Herd!“
„Addsche! Verladdsche!“, ruft höhnisch der kleine Bruder vom Treppenabsatz und kichert über seinen Einfall. Dann knallt die Wohnungstür und Anton hört, wie sie die Treppe hinuntertrapsen.
„Warum muß Anton nicht in die Ferienspiele?“, hört Anton den kleinen Bruder auf der Treppe quengeln.
„Damit Anton Eis holen und einkaufen gehen kann, du Blödmann!“, will Anton ihm hinterherbrüllen. Aber er unterdrückt seine Wut und geht in die Küche.

In der Küche stehen eine Tasse warmer Milch und zwei Brötchenhälften mit Marmelade und Kunsthonig auf dem Tisch. Anton ekelt sich vor der Milch, aber weil sie gesund sein soll trinkt er sie, wenn auch mit Widerwillen, die Mutter will es so, wegen seiner schwächlichen Konstitution. Früher verabreichte sie ihm stattdessen löffelweise Lebertran, das war schlimmer. Das Brötchen ist gegessen, und Anton ist allein in der Wohnung. Der große Bruder ist mit seinen Freunden unterwegs zur Ostsee, und Anton ist nun ganz auf sich selbst geworfen. Er geht in der Korridor und öffnet den Eisschrank. Der Eisblock, den Anton vor Tagen oben auf dem Rost plaziert hatte, ist zu einem unbedeutenden Stückchen, der Karikatur eines Eisriegels, zusammengeschmolzen und würde wohl bald verblichen und vergangen sein. Das Schmelzwasser tropft langsam und gleichmäßig in den großen Keramikkrug, der auf der linken Seite unter dem Stück Gummischlauch steht, das aus der Wand des Schrankes herausragt. Anton schließt den Schrank und geht wieder in die Küche. Auf dem Luftschrank unter dem Fenster liegt der Einkaufszettel und abgezähltes Geld. Der Luftschrank ist eine Ziegelbreite tief in die Mauer der Wand eingelassen.In der Mitte seiner Rückwand ist in der Mauer ein Loch nach draußen, das durch ein mit Löchern versehenem Blech abgedeckt ist. Innen ist ein Schieberegler installiert, mit dem man die Zirkulation der Luft regulieren kann. Deshalb nennen sie ihn ihren Luftschrank. Im Winter ist das kein schlechter Kühlschrank, aber im Sommer ist er zum Aufbewahren von Lebensmitteln ungeeignet. Die Mutter verwahrt Eier, leere Einmachgläser, altes Packpapier, Bindfäden und gebrauchte Konsumtüten darin. Die gebrauchten Einkaufstüten aus braunem Papier benutzt sie, um Antons Pausenbrote darin einzuwickeln.

Anton studiert den Einkaufszettel, der von einem Stück Packpapier abgerissen worden ist. Die Schrift der Mutter, eine Mischung aus Sütterlin und lateinischen Buchstaben, ist wie immer schlecht zu entziffern. Feinfrost, Mehl, Zucker, Margarine, Marmelade, Kunsthonig … liest Anton. Was – zum Teufel – meint sie mit „Feinfrost“? Nach einer Weile dämmert ihm, daß sie grüne Bohnen gemeint haben könnte, im Eisschrank liegen Brühknochen und ein Stück Hammelfleisch. So etwas tut sie öfter, und wenn Anton in seiner Hilflosigkeit, oder weil es das Gewünschte gerade nicht gibt, etwas Falsches kauft, schimpft sie mit ihm und nennt ihn unzuverlässig. Das tut Anton weh. Eigentlich ist er in einem Alter, in dem er gegen so viel Ungerechtigkeit opponieren sollte, aber das kann er nicht, er traut sich einfach nicht. Er flieht in seine Bücher-Traum-Welt, und dort ist er der Held und der Bestimmer, und alles fügt sich nach seinen Wünschen. Mißmutig geht Anton noch einmal in den Korridor und öffnet den Eisschrank. Aber das Restchen Eis ist nicht größer geworden, und unten liegen neben der Butterdose das kleine Stück Hammelfleisch und die Brühknochen, und sie grinsen ihn höhnisch an, als er sie zur Kontrolle kurz aus dem durchweichten Einwickelpapier herauslugen läßt.

Der Eisschrank ist ein großes, schweres Monstrum, das sein Vater selbst gebaut hat. Der Schrank hat eine doppelte Wandung, deren Hohlraum zur Isolierung mit Sägespänen gefüllt ist. Die Auffangschale für das Schmelzwasser ist eine Rehrückenkuchenform gewesen, und das Gitter, auf das man den Eisblock legt, war eigentlich dazu bestimmt, eine Hutablage in einem Personenzugwagen zu werden. Die Tür ist mit einem Hohlgummi abgedichtet und der Verschluß wird durch einen Drehgriff, wie man ihn an manchen Garagentoren findet, gewährleistet. Neben der tschechischen Waschmaschine Perex und dem Heißwasserboiler über dem Spülstein ist der Eisschrank eine der sichtbaren Verbesserungen der letzten Jahre in ihrem Haushalt gewesen. Während aber die Waschmaschine und der Boiler die Arbeit der Mutter mittels billigem volkseigenen elektrischen Strom erleichtert, ist das Funktionieren des Eisschranks auf die Mühe Antons beim Beschaffen des Eises angewiesen. Einmal täglich kommt ein kleiner Laster mit Eisriegeln in ihrer Straße vorbei. Die Eismänner – zwei grobschlächtige Kerle mit schweren Lederschürzen und speckigen Skimützen auf dem Kopf – geben ihre Ankunft mit einer Trillerpfeife kund, der sie melodische Pfiffe entlocken, die überall im Umkreis zu hören sind. Die Haltepunkte sind festgelegt, in ihrer Straße halten sie um acht Uhr bei den drei großen Kastanien. Lange bevor die Eismänner kommen, bildet sich eine Schlange aus Hausfrauen, Rentnern und – jetzt in den Ferien – halbwüchsigen Schülern wie Anton, die sich mit Eimern und Einkaufsnetzen bewaffnet haben, um ihre gefräßigen Eisschränke mit neuem Futter zu versorgen. Der Laster hält, die Eismänner springen heraus, und während einer von ihnen die Plane und die Ladeklappe öffnet, vollführt der andere sein Pfeifkonzert, und Anton hat den Eindruck, als probiere er gern neue Triller und Melodiebögen aus. Der Erste steigt auf die Ladefläche und zieht mit einem langen Enterhaken die Eisriegel nach hinten. Dort steht sein Kollege und zerlegt die meterlangen Riegel mit einem Eispickel, den er virtuos zu handhaben weiß, in handliche Hälften oder Viertelchen und verkauft sie an die Wartenden. Das Viertelchen kostet fünfundzwanzig Pfennige, und Anton kauft gewöhnlich zwei oder drei davon. Eins bekommen immer die Fräuleins Carlsohn ab, deren Eisschrank zwar alt und gediegen ist und hochelegant aussieht, jedoch ist er um einiges kleiner als der von Antons Vater selbst entworfene und gebaute. Und dann muß Anton seine Viertelchen nach Hause schleppen. Das fällt ihm schwer, und er haßt es, wenn das kalte Schmelzwasser auf seine Sandalen tropft und die Kniestrümpfe durchnäßt. Wenn Anton die Uhrzeit verpaßt, kann er immer noch sein Fahrrad nehmen und zu einem anderen Haltepunkt fahren. Und während er vor dem Eisschrank sinniert, hört er das melodische Pfeifen der Eismänner von den drei Kastanien her. Jetzt müßte er sich beeilen, oder eben das Fahrrad aus dem Keller holen. Aber er hat keine Lust. Er möchte lieber mit Kapitän Krusenstern auf der Nadjeschda die Welt umsegeln, eben haben sie die Aleuten passiert, und sie sind auf dem Weg nach Japan. Aber: Je eher daran, je eher davon, wie die Mutter immer sagt. Also geht er zuerst Einkaufen.

Anton hat alles bekommen, was auf dem Einkaufszettel steht. Schnell macht er sein Bett, erledigt den Abwasch und räumt die Küche auf. Als er den letzten Teller weggestellt hat, hängt er das Geschirrtuch an den Haken und geht in die Knie. Er schaut aus dieser Höhe längs über den Fußbodenbelag der Küche zum Fenster hin und befindet, daß jetzt nicht gefegt werden muß. Die paar Krümel unter dem Eßtisch fallen nicht weiter auf, denkt er. Dann nimmt er eine Mark vom Wechselgeld, holt sein Rad aus dem Keller und fährt los. Er will zum Kühlhaus am Hauptbahnhof. Dorther kommen die Männer mit ihrem Eislaster, und dort kann man den ganzen Tag über Eisriegel oder Stückchen davon kaufen. Anton fährt hinunter zur Liebknechtstraße, biegt rechts ab und fährt den Peterssteinweg hinauf Richtung Leuschnerplatz. Der Verkehr ist dünn, und Anton kommt bald wieder ins Sinnieren. Er erinnert sich an jene Zeit, in der es noch Lebensmittelmarken gab. Mit seiner Mutter und dem kleinen Bruder ist er mit der Linie elf zum Bahnhof gefahren, um das Kühlhaus aufzusuchen. Es war im November, und Onkel Karl aus Lindenhof in Vorpommern hatte eine Ente und eine Gans geschickt. Er ist kein Bauer, sondern Landarbeiter auf einem Volksgut, aber er und seine Frau, das Friedchen, füttern immer ein paar Schweine und halten natürlich Geflügel. Und der Onkel läßt seine nach Sachsen in die Großstadt verschlagene Schwester nicht im Stich. Zumal er jedes Jahr mit Kollegen zur AGRA kommt, und bei ihnen ein oder zwei Nächte logiert. Die Mutter hatte die Gans in einen Rucksack verstaut, den sie an einem Riemen über der Schulter trug. Die Ente lag in einer Einkaufstasche, die Anton zu tragen hatte. Vor dem Kühlhaus reihten sie sich in eine lange Menschenschlange ein. Die Mutter hatte das Schlachtgut in Stücken eines alten Lakens eingenäht und Zettel angeheftet, auf denen sie in großen Blockbuchstaben mit Kopierstift ihren Namen und ihre Anschrift geschrieben hatte. Als sie an der Reihe waren, ihre Viehcher an einem Schalter abzugeben, heftete ein Mann, der ein Zwillingsbruder der grobschlächtigen Kerle vom Eislaster hätte sein können, eine kleine bunte Marke, die er zuvor in zwei Hälften gerissen hatte, an ihre Geflügelpakete. Die abgerissene Hälfte bekam die Mutter, die sie sorgfältig in ihrer alten, abgewetzten Segeltuchtasche verstaute, in der sie gewöhnlich die Lebensmittelmarken aufbewahrte. Die Marke war winzig, und Anton hoffte, die Mutter würde das winzige Papierschnipselchen bis Weihnachten nicht verbummeln. Zu Weihnachten jedenfalls endeten die Gans und die Ente als Braten auf dem Tisch der Familie. Die Mutter hatte die bunten Schnipselchen natürlich nicht verbummelt, sie verbummelte nie etwas.

Anton durchfährt die Schillerstraße Richtung Karl-Marx-Platz und biegt dann in die Goethestraße ein. Am Hauptbahnhof steigt er vom Rad und schiebt es über den Bahnhofsvorplatz an der Ostseite durch eine Straße, die Sachsenseite heißt, bis zum Kühlhaus. Am Verkaufstisch hat sich eine lange Schlange gebildet, solche Menschenschlangen hält Anton für normal, in der es aber rasch vorangeht. An der Ausgabe hantiert wieder ein Grobschlächtiger, und Anton fragt sich, wie viele Zwillinge die Eismänner wohl noch haben könnten. Er entrichtet seine Mark und trägt den langen Eisriegel zum Fahrradplatz. Das Schmelzwasser tropft zwischen den Fingern hindurch und durchnäßt ihm die Hose. Die Kälte macht die Finger steif und die Hände beginnen zu schmerzen. Erleichtert packt er den Riegel auf den Gepäckträger. Dann läßt er die Klemme lässig ein paarmal gegen den Riegel schnippen, bis sich an dessen Rückseite zwei kleine Vertiefungen gebildet haben, die zur Arretierung dienen sollen. Das hat er den Brüdern seines Freundes Andreas abgeschaut, und es hat immer funktioniert. Er schiebt das Rad mit seiner Last über den Bahnhofsvorplatz, und in der Richard-Wagner-Straße schwingt er sich in den Sattel, um über Sachsenplatz und Markt in Richtung Südvorstadt zu fahren. Den Toniwagen, der langsam hinter ihm herfährt, bemerkt er nicht, er ist wieder mit Kapitän Krusenstern auf Großer Fahrt.

Oberwachtmeister Köhler und Wachtmeister Krause fahren mit ihrem Wartburg-Toni durch die Leipziger Innenstadt. Sie haben es eilig, aber sie hassen beide Blaulicht und Sirene. Man hat sie in die Grunerstraße in der Südvorstadt geschickt. Ein Familienvater randaliert betrunken im Treppenhaus. Seine Frau und die Kinder haben sich zu Nachbarn geflüchtet, und der Mann droht, die Tür einzuschlagen. Besorgte Nachbarn haben von der Telefonzelle aus die 110 angerufen. Für die Polizisten ist das nichts Besonderes, Routine. Sie werden Kraft ihrer Autorität den Randalierer ruhig stellen, festnehmen und in die Ausnüchterungszelle bringen. Wenn er Ärger macht, würden sie ein wenig mit dem Gummiknüppel nachhelfen, der hat noch jedes Großmaul zum Schweigen gebracht. Aber sie hassen es auch, Protokolle zu verfertigen, und deshalb haben beide schlechte Laune. Vor ihnen her fährt ein Junge auf einem Fahrrad, auf dessen Gepäckträger er einen gefährlich großen Eisriegel balanciert. Sie schauen sich an, und der Oberwachtmeister hebt die linke Augenbraue.
„Radfahrer oder Randalierer?“, fragt der Wachtmeister.
„Randalierer, natürlich. Gib Gas!“, sagt der Oberwachtmeister.
Wachtmeister Krause setzt den Blinker und gibt Gas, er will den Jungen überholen. Sie sind an der Einfahrt zur Petersstraße. Oberwachtmeister Köhler hat das Fenster heruntergekurbelt, er will den Jungen auf die Verkehrsgefährdung durch seine Last aufmerksam machen. Als sie auf seiner Höhe sind, schwenkt der Junge plötzlich ohne ein Handzeichen zu geben und sich nach hinten zu versichern nach links, fährt ihnen in die Seite und stürzt. Der Wachtmeister bremst. Der Wagen kommt sofort zum Stehen, und die Polizisten springen heraus, Passanten bleiben stehen.
„Das dürfte unserer Volkspolizei nicht passieren!“, schreit erregt ein dünner Mann mit hoher Fistelstimme aus der Menge. Anton liegt auf der Straße. Der Steiß tut ihm weh. Er schaut sich um, der Eisriegel liegt neben ihm. Er ist in zwei Stücke zerbrochen, aber sonst ist er unversehrt. Das beruhigt ihn, aber der Steiß, der Steiß schmerzt höllisch. Die Polizisten und eine mütterliche Frau in mittleren Jahren helfen ihm hoch. Er kennt die Frau, es ist Frau Schäfer aus dem Nachbarhaus, und überdies ist sie die Mutter seiner Mitschülerin Eva, für die er schwärmt. Antons Mutter und Frau Schäfer kennen sich gut, und manchmal bleiben sie auf einen Schwatz auf der Straße stehen. Daher weiß Frau Schäfer auch über Anton und seine Familie recht gut Bescheid. Anton muß ausgerechnet jetzt an Evas langen blonden Pferdeschwanz und ihre kecke Stupsnase denken. Ob Eva wohl morgen mit ihm Eis essen gehen wird? Anton hat extra all seine kleinen Geldbeträge, die ihm zugekommen sind, dafür aufgespart. Nicht einmal das Mosaik hat er sich diesen Monat gekauft. Die Polizisten reden auf ihn ein, aber Anton nimmt das alles nur verschwommen wahr. Einer der Polizisten hat ein Notizbuch und einen Stift gezückt und fragt ihn nach seinem Namen. Aber Anton bekommt keinen Ton hervor, er versteht gar nicht, was um ihn herum vorgeht und was man von ihm will. Da greift Frau Schäfer ein. Sie erklärt den Polizisten, wer sie ist und beantwortet alle Fragen für Anton. Der zweite Polizist ist an Anton herangetreten und schaut ihm besorgt ins Gesicht. Dann wackelt er mit dem Zeigefinger vor Antons Nase herum und fragt ihn nach dem Wochentag.
„Mittwoch, natürlich“, sagt Anton langsam, unwillig und wahrheitsgemäß, und jetzt kommt er richtig zu sich. Verdammt, denkt er, wie bekomme ich die beiden Eisblöcke nach Hause? Die Polizisten sind in ihren Toni gestiegen und fahren weg, die Menge der Gaffer zerstreut sich, aber der wütende Mann mit der hohen Stimme schimpft noch immer auf die Volkspolizei. Frau Schäfer nimmt Anton beim Arm.
„Komm, ich bringe dich nach Hause. Sie werden nachher zu euch kommen und dich zu deiner Mutter bringen. Jetzt haben sie einen Einsatz. Ich habe ihnen eure Anschrift gegeben.“ Sie nimmt aus ihrer großen Tasche ein Einkaufsnetz und verstaut einen der Eisblöcke darin. Den anderen klemmt Anton wieder auf den Gepäckträger. Das Einkaufsnetz bindet er mit den Griffen an die Querstange. Langsam gehen sie die Petersstraße hinunter, vorbei am HO-Warenhaus in Richtung Leuschnerplatz. Die Frau geht dicht neben Anton und er kann den selben Duft wahrnehmen, der Eva umgibt, wenn er nahe genug an sie herankommt. Anton schiebt sein Fahrrad, das hatten die Polizisten so bestimmt, und Frau Schäfer faßt ihn fürsorglich ab und zu sanft am linken Arm, wenn sie eine Straße überqueren. Sie merkt, daß Anton Schmerzen hat.
„Wo tut’s denn weh?“
„Am Steiß.“ Anton beißt im wahrsten Sinne des Wortes die Zähne zusammen und kann gerade noch ein Schluchzen unterdrücken. So gehen sie langsam den Peterssteinweg hinunter. An der Einmündung zu ihrer Straße legt Frau Schäfer Anton die Hand auf die Schulter.
„Bis zur Hochzeit ist alles wieder gut“, sagt sie und lacht. „Ich muß jetzt weiter. Grüß deine Mutter. Das Netz bringst du mal vorbei, demnächst“, sagt sie und schaut ihn verschmitzt an. Auweia, denkt Anton, sie weiß Bescheid. Dann strubbelt sie Anton die Haare und streicht ihm über die Wange. Ihre Hand ist warm, glatt und weich und duftet nach etwas Unbekannten. So etwas tut Antons Mutter nie. Dann dreht sie sich um und geht.

Anton schiebt sein Rad die letzten hundert Meter bis zu ihrem Haus, stellt es im Hof ab und bringt die Eisblöcke nach oben. Er holt aus dem Werkzeugkasten des Vaters den langen Schraubenzieher mit der schmalen Klinge. Er sieht fast aus wie der Eispickel der grobschlächtigen Männer, und Anton hat gelernt, ihn fast ebenso virtuos zu handhaben. Er zerlegt die Blöcke und bestückt den Eisschrank. Was übrig ist, gibt er in einen Emailleeimer. Dann schüttet er das Schmelzwasser aus dem großen Krug, er ist fast voll, in den Spülstein.

Anton klingelt bei ihren Nachbarn, den Fräuleins Carlsohn. Dort ist immer jemand zu Hause, denn das jüngere der Fräuleins ist selbständige Damenschneidermeisterin und betreibt ihr Geschäft in der geräumigen Wohnung. Fräulein Carlsohn, die jüngere, öffnet persönlich, sonst ist das die Aufgabe der Lehrmädchen. Wie immer trägt sie einen weißen Arbeitskittel, und wie immer baumelt ihr Metermaß um ihren Nacken, und wie immer qualmt in einer Zigarettenspitze in ihrer rechten Hand eine Carmen, die parfümierte Zigarette für die anspruchsvolle Dame.
„Komm ‚rein Anton, du weißt ja, wo der Eisschrank ist“, sagt sie. Ihre Stimme ist etwas rau und hoch erotisch, aber das weiß Anton noch nicht. Ihr großer rotweißer Kater Napoleon ist ihr auf den Fuß gefolgt. Als er Anton erkennt, trollt er sich. Er kann Anton nicht leiden, weil der ihn einmal mit einem Strahl aus seiner Wasserpistole geärgert hat. Auf dem Weg zur Küche kommt Anton an der geöffneten Tür der Schneiderwerkstatt vorbei, und die jungen Näherinnen, die Anton bemerken, lachen und winken ihm zu. Die hübsche Ilona kommt auf den Flur und schenkt Anton eine Praline. Auf dem Zuschneidetisch steht eine Flasche Rotkäppchen, sie feiern irgend etwas. Anton verstaut das Eis in dem antiken Gegenstück, und Fräulein Carlsohn drückt ihm eine Mark in die Hand. Anton bedankt sich höflich und geht.

Bei seinem Sturz hat Anton sich schmutzig gemacht. Er wäscht sich im Bad und zieht eine neue Hose an. Der Schmerz im Steiß hat nachgelassen und Anton probiert verschiedene Sitzgelegenheiten aus. Er ahnt nicht, daß der Schmerz ihn noch wochenlang begleiten wird. Es klingelt. Anton öffnet, und wie angekündigt stehen die Polizisten vor der Tür.
„Wie müssen dich zu deinen Eltern bringen. Vorschrift. Deine Mutter arbeitet im Postamt in der Jahnallee? Und du hast dich auch wirklich nicht verletzt?“
„Nein“, sagt Anton und er verschweigt die Steiß-Schmerzen. Er denkt an Krankenhaus, warme Milch und ekligen Grießbrei, an gestrenge Oberschwestern und schmerzhafte Spritzen, an laute Zimmernachbarn und den Geruch nach Urin und Desinfektionsmittel. Das kennt er zur Genüge. Anton schließt die Tür ab und hängt sich den Wohnungsschlüssel um den Hals.
„Immer noch diese vielen Schlüsselkinder“, brummt der Oberwachtmeister, und er schüttelt den Kopf. Sie gehen die Treppe hinunter auf die Straße, und Anton muß im Wartburg hinten Platz nehmen. In der Jahnallee vor dem Postamt ist eigentlich Parkverbot. Aber der Wachtmeister hält trotzdem direkt vor dem Postamt und Anton und die Polizisten betreten durch eine große Schwingtür die Schalterhalle. Anton zeigt mit ausgestrecktem Arm auf den Schalter, an dem seine Mutter ihren Dienst versieht. Einer rechts, der Oberwachtmeister, der ältere und sympathischere von beiden, einer links, marschieren sie zu dritt durch die Halle, beinahe im Gleichschritt. Antons Mutter bedient gerade einen Kunden und zählt ihm konzentriert das Wechselgeld vor. Die Kollegin am Nachbarschalter, Anton weiß, daß sie Hilde heißt und mit seiner Mutter befreundet ist, sieht ihn zuerst, bekommt große Augen und macht Antons Mutter aufmerksam. Die beiden Kunden am Schalter treten respektvoll zur Seite. Antons Mutter ist aufgestanden und starr vor Schreck, Angst und Zorn. Anton kennt den Ausdruck in ihrem Gesicht.
„Frau Mertz?“
„Ja …“.
„Keine Angst es ist nichts weiter passiert. Wir müssen ihnen aber ihren Jungen übergeben, die Vorschriften, wissen sie. Er hatte einen kleinen Unfall.“
„Was hat er angestellt? Er stellt doch sonst nichts an!“
„Keine Aufregung, Frau Mertz, er war nur, nun – sagen wir – etwas unaufmerksam, mit dem Fahrrad.“
Das Postamt hat den Betrieb eingestellt. Die Kolleginnen von Antons Mutter und die Kunden starren gebannt, niemand möchte etwas verpassen. Antons Mutter ist hochrot im Gesicht, und Anton befürchtet Schlimmes. Sie muß ein Protokoll unterschreiben.
„Und immer daran denken: Augen auf im Verkehr!“, sagt der Oberwachtmeister, klopft Anton auf die Schulter und zwinkert ihm zu. Die Polizisten verabschieden sich und grüßen militärisch. Das Postamt nimmt seine Arbeit wieder auf. Hilde hat ihren Schalter geschlossen.
„Geh nur, Trudel“, sagt sie. „Ich mach mal schnell weiter.“
Hinter Anton hat sich nämlich eine kleine Schlange gebildet. Antons Mutter besorgt die Lotto-Annahmestelle, und die Leute wollen reich werden. Was interessiert sie ein Halbwüchsiger, der den ganzen Betrieb aufhält, und wenn er zehnmal eine Polizeieskorte hat!

Die Mutter kommt hinter dem Schalter hervor, und sie gehen ein paar Schritte beiseite. Anton muß erzählen, was passiert ist. Das große Donnerwetter bleibt aus, vor all den Leuten will die Mutter kein Theater machen. Dem Vater wird sie wohl auch nichts erzählen, denn gestern hatten sie sich wieder gestritten. Anton hatte sich in sein Zimmer am anderen Ende der Wohnung zurückgezogen und in seinem Weltumseglerbuch geschmökert. Das Gezeter der Eltern war bis dorthin zu hören gewesen.
„In vierzehn Tagen geht’s ab ins Ferienlager. Da seid ihr erst mal weg von der Straße. Gott sei Dank!“, sagt die Mutter, verdreht die Augen und faltet die Hände wie zu einem Gebet.

Anton will nicht ins Ferienlager, er hat seine Gründe. Aber er protestiert nicht, man würde den Protest sowieso nicht beachten. Außerdem hat er die Schmerzen am Steiß. Krankenhaus statt Ferienlager ist für Anton keine Lösung. Die Mutter drückt ihm ein wenig Geld für eine Straßenbahnkarte in die Hand, und Anton darf gehen. Kollegin Hilde ist die Abläufe am Lotto-Schalter nicht gewöhnt, und es hat sich eine lange Menschenschlange gebildet, Antons Mutter ist in der Verantwortung.

Anton beschließt, das Geld nicht für die Straßenbahn zu vergeuden. Er denkt an die blonde Eva mit dem Pferdeschwanz und daran, daß er morgen mit ihr in Meyers Eisdiele Erdbeereis mit Sahne schlecken will. Das versetzt ihn in eine ungewohnte Hochstimmung. Und dieses neue Gefühl ist besser als die Weltumseglung mit Kapitän Krusenstern, und es vertreibt die schwarzen Gedanken, die sich um das Ferienlager drehen. Und ein wenig auch die Schmerzen am Steiß.

Copyright © Bernd Mai, Juli 2017                                                                                             Leipzig & Löbejün

One Response to Sommer, Eis und große Ferien

  1. Renate says:

    Eine tolle neue Antongeschichte.

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