Anton besucht eine Matinee

Anton besucht eine Matinee

von Bernd Mai

Der Kulturverein hat zur literarisch-musikalischen Matinee eingeladen. Bettina trägt sich mit dem Gedanken, dem Verein beizutreten, und sie hat die Einladung angenommen. Am Sonntag nach dem Frühstück ziehen sie los. Anton hat als junger Mann oft solche Veranstaltungen besucht, und er freut sich auf die Lesung. Als sie in der Stadthalle ankommen, sind sie die ersten. Sie werden von zwei Damen des Vereins begrüßt, und während Bettina mit ihnen plaudert, sucht Anton nach einer Sitzgelegenheit, denn er hat wieder Rückenschmerzen. Aber er findet keine, deshalb setzt er sich auf einen Heizkörper. Der ist angenehm warm, und Anton ignoriert die mißbilligenden Blicke der Damen.

Bettina und die Damen sind ins Obergeschoß gegangen, und nach einer Weile hört Anton das Geräusch von Stühlerücken. Er bleibt vorsichtshalber, wo er ist, und ein neu hinzugekommener Gast gesellt sich zu ihm. Er trägt einen Vollbart und hat einen langen Schal schick nach der neuesten Mode um den Hals geschlungen. Seine Begleiterin, eine vollbusige Frau, die ihr Haar trägt wie der Dichter Brecht, mustert Anton neugierig. Man kennt Anton hier noch nicht, und er fühlt sich unwohl. Anton ist versucht, auf ihren Busen zu starren, aber er begnügt sich mit den riesigen Kreolen, die an ihren Ohren baumeln. Dann grinst er die beiden freundlich an, und er steigt die Stahltreppe nach oben. Die „Stadthalle“ ist das historische Stadtgut des 2000 Einwohner zählenden Ackerbürger-Städtchens. Man hat es zum Bürgerzentrum umgebaut, und in seinen Räumen finden alle Veranstaltungen der Kommune statt, von der Jugendweihe bis zur Rentnerweihnachtsfeier, vom Kinderfest bis zum Jubiläum des Schützenvereins. Die Stadt schmückt sich mit dem Balladenkomponisten Carl Loewe, der hier geboren wurde, und die Veranstaltungen ihm zu Ehren werden im „Großen Saal“ abgehalten.

Anton sucht sich einen Stuhl, und er ist froh, daß er ein ordentliches Sitzgerät hat. Sie befinden sich in einer Art Diele, und man kann die neuzeitlichen Konstruktionselemente aus Stahl, aber auch die historischen Mauerteile gut erkennen. Hier wurde Geld ästhetisch und sinnvoll eingesetzt, und das gefällt Anton. Langsam füllt sich die Diele. Der Vollbärtige und seine Begleiterin sitzen schräg vor Anton, und er bekommt die Gelegenheit, die Fülle ihres Busens ungestört bewundern zu können. Kurz vor Beginn der Lesung sind sie zwölf Zuhörer, die Vereinsdamen eingeschlossen. Der Altersdurchschnitt liegt ein wenig über Antons Jahren, das Paar vor ihm ist eher ein paar Jahre jünger. Der Vollbärtige hantiert mit einer kleinen Digitalkamera, und Anton vermutet in ihm ein weiteres Vereinsmitglied.

Dann kommt der Autor. Anton schätzt ihn auf Mitte fünfzig, und trotz seiner grauen Haare wirkt er jugendlich. Der Autor trifft ein paar Vorbereitungen. Dann stellt die Obervereinsdame den Gast vor. Ihre kurze Ansprache klingt auswendig gelernt, und sie wünscht mit stockender Stimme viel Vergnügen. Der Autor hat eine Gitarre ausgepackt. Mit fröhlichem Gesicht und so, als müßte er sich für die traurige Dame entschuldigen, beginnt er von sich zu erzählen. Dann singt er ein Lied. Es ist ein typisches Liedermacher-Lied, und Anton, der eine spannende Lesung erwartet hatte, runzelt die Stirn. Der Vollbärtige macht hin und wieder ein Foto. Am Ende des Liedes trommelt der Sänger mit den Fingern der rechten Hand auf dem Korpus der Gitarre virtuos einen Abschlußrhythmus. Die Zuhörer spenden freundlichen Beifall. Der Sänger erzählt wieder aus seinem Leben, und an ein paar ironischen Bemerkungen über den Kulturbetrieb in der DDR findet auch Anton Gefallen, er hatte einschlägige Erfahrungen machen dürfen. Dann noch ein Lied. Anton beginnt sich zu langweilen. Und auch am Ende dieses Liedes trommelt der Sänger einen markanten Rhythmus auf der Gitarre, und in Antons Kopf macht es „klick“. Dieses verdammte Trommeln, wo hat er das schon gehört?

Nach einem weiteren Lied kommt der Autor endlich zum Lesen. Er liest Auszüge aus einer längeren Erzählung, in der es um das Jungsein in der DDR im Jahre 1970 geht. Auch Anton war 1970 noch jung gewesen, aber er hatte die Armeezeit hinter sich, und er hatte einen Beruf und eine feste Freundin – kurz: Er war schon lange kein Grünschnabel mehr. Und was waren die Probleme von ein paar spinnerten Oberschülern aus der anhaltischen Provinz, die eine Beatcombo gründen wollen, gegen den „Großen Beatstreik“ vom Oktober 1965 in der Messestadt Leipzig? Die winzige weiße Narbe an seiner Stirn stammt vom Zusammenstoß mit dem „Kleinen Parteisekretär“, den ein Bereitschaftspolizist schwang. Er war kaum älter als Anton, und Anton blutete wie ein Schwein. Den Blick des jungen Wehrpflichtigen, der ihn erschrocken laufenließ, hat er bis heute nicht vergessen. Die man erwischte, schickte man ein paar Tage in die Braunkohle, aber nicht ohne ihnen vorher die Haare kurz zu scheren …

Dann gibt der Sänger- Autor wieder ein Lied zum Besten, und wieder schießt der Vollbärtige ein paar Fotos. Und wieder trommelt der Barde am Ende des Liedes seinen Wirbel auf dem Gitarrenkorpus . Und während er die letzte Passage aus seiner Erzählung liest, fallen Anton fast vergessene Begebenheiten aus den siebziger Jahren ein, und die Stimme des Autors dringt kaum noch in sein Bewußtsein.

Anton war Mitglied eines „Zirkels Schreibender Arbeiter“. Sein Zirkel unterschied sich von den anderen dadurch, daß die Mitglieder alle jung und literatur-besessen waren und ernsthaft an eine Karriere als Lyriker oder Schriftsteller glaubten. Anton war mit seinen dreißig Jahren der Älteste, und auch in seinem Hinterkopf hatte die Idee vom freien Literatentum gehockt. Sie trafen sich einmal monatlich im Klubhaus ihres Trägebetriebes, um zu diskutieren und zu streiten, und ihr Zirkelleiter Armin Grünkorn besaß die Gabe, Argumente hervorzulocken, sie zu bündeln, ihnen Gewicht zu geben oder zu nehmen, so daß am Ende des Abends jeder etwas gelernt hatte. Zum Tag der Republik hatte man sie als „Hervorragendes Volkskunstkollektiv“ ausgezeichnet, und bei all der Lächerlichkeit dieses Vorganges fanden am Ende alle, sie hätten es verdient.

Einmal erschien Armin in Begleitung eines jungen Mannes, der einen großen schwarzen Gitarrenkoffer bei sich hatte. Er stellte ihn als kommenden Liedermacher vor, der den Kontakt zur dichtenden Zunft suchte. Er wolle ein paar seiner Lieder vorstellen, und vielleicht gäbe es Ansätze zu einer Zusammenarbeit. Die Wilde Hilde zog eine Augenbraue hoch. Anton war ein bißchen verliebt in sie, und er wußte, was das zu bedeuten hatte. Der Lange Fred drehte seine russische Ballonmütze nach hinten – in jener Zeit ein unerhörter Vorgang – und allen war klar, daß er auf Krawall aus war. Auch die anderen jungen Poeten machten finstere Gesichter. Sie waren wie ein Rudel junger Wölfe, das auf das Kommando des Rudelführers zum Angriff wartet. Nur Anton lehnte sich entspannt zurück. Er schrieb Kurzgeschichten im Stile Hemingways, und er hatte damit nichts zu tun. Der junge Sänger packte umständlich seine Gitarre aus und stimmte sie zeitraubend. Der Blick der Wilden Hilde war steinern, um die Mundwinkel des Langen Fred spielte ein feines Lächeln. Der Sänger begann. Sein erstes Lied war eher leise, es ging um unerwiderte Liebe und heftige Triebe, sehr melancholisch, und die Melodie quoll über von Trillern und geklimperten Melodiebögen, und „sehen“ reimte sich auf „vergehen“ und „Sonne“ auf „Wonne“ Nur auf „verstrickt“ hatte er keinen Reim gefunden. Am Ende des Liedes trommelte der junge Mann mit den Fingern der rechten Hand einen kleinen Rhythmus auf dem Korpus seiner Gitarre. Er hielt sich nicht mit Gerede auf, und er spielte und sang noch eins, und noch eins. Und nach jedem Lied trommelte er seinen kleinen Rhythmus. Die jungen Poeten, die es gewöhnt waren, jedes Stück Lyrik oder Prosa einzeln zu begutachten und zu verreißen, wurden ungeduldig. Armin machte dem nach dem vierten Lied ein Ende, und er forderte seine jungen Dichter zur Diskussion auf, wie er es gewohnt war. Der Sänger war verstimmt. Er hätte gern noch ein paar Lieder gesungen, sagte er. Und überhaupt, er wäre nicht hier, um seine Lieder zur Diskussion zu stellen. Das sei wohl ein Mißverständnis gewesen, fügte er hinzu, als er in Armins erstaunt-fragendes Gesicht blickte.

Der Lange Fred holte tief Luft und drehte seine russische Ballonmütze wieder nach vorn, und alle hielten den Atem an. Er machte sein verschmitztes Gesicht, und er sah ein bißchen aus wie der Clown Popow. Und dann verriß Fred die Texte nach der Schnur, wobei er sich klugerweise vor einer Beurteilung der musikalischen Qualität hütete. Irgendwann, kurz vor dem Ende seiner Kritik, fiel das Wort „Gebrauchslyrik“, und das war das schlimmste Urteil, das man sich in ihrem Kreis vorstellen konnte. Als Fred geendet hatte, schwiegen alle.

„Reim dich, oder ich freß dich!“ sagte die Wilde Hilde laut in diese Stille hinein. Der Sänger packte wortlos seine Gitarre ein und verließ den Raum ohne Gruß.

Der Autor hat seine Lesung beendet, und das Auditorium spendet wohlwollenden Applaus. Die Obervereinsdame bedankt sich artig, und sie fordert die Zuhörer auf Fragen zu stellen. Der Autor hat ein paar CDs und einige seiner Bücher dabei, und Bettina kauft ein Buch. Die Gäste haben keine Fragen, und die Diele leert sich rasch. Am Ende plaudern nur noch Bettina und die Obervereinsdame mit dem Autor, und Anton betrachtet ein paar Fotos an den Wänden, die von einer Ausstellung übrig geblieben sind. Er verkneift sich die Fragen, die er dem Autor zu stellen gehabt hätte. Und, wer weiß, vielleicht ist ja alles nur ein Irrtum, denn die Erinnerung trügt nur zu oft. Besonders, wenn sie über dreißig Jahre alt ist …

© Nov. 2010

 

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