Apropos Griechenland – ein Buchtipp

Griechenland, ach, Griechenland!

von Bernd Mai

Alle Welt spricht über Griechenland und die Griechen. Tun wir es also auch.

Als Junge lebte ich in den fünfziger Jahren mit meinen Eltern und meinen Brüdern in der Südvorstadt von Leipzig. In unserer Straße wohnten ein paar griechische Familien. Die Familie Panaiotis aus der Nummer sechsunddreißig zum Beispiel war eine gemischte Familie. Herr Panaiotis war der Hauptbuchhalter des Betriebes, in dem mein Vater arbeitete. Frau Panaiotis war Deutsche. Warum die Griechen ausgerechnet in unserer Straße so stark vertreten waren, weiß ich nicht, sie waren eben da, und die Kinder waren unsere Spielgefährten. Auf meine Frage sagte mein Vater nur, sie hätten aus ihrer Heimat flüchten müssen. Dann verkroch er sich wieder hinter seiner Zeitung und schlürfte seinen Tee, den er zubereitete, indem er ihn kurz aufkochte und dann lange ziehen ließ. Er süßte ihn mit viel Zucker, und manchmal, wenn es Zitronen gab, gab er ordentlich Zitronensaft dazu.

Die Griechen, so erfuhr ich später, waren Angehörige der linken Bürgerkriegspartei gewesen, die den Bürgerkrieg in Griechenland 1946 – 1949 verloren hatte. Tausende Emigranten, auch viele Kinder ohne ihre Eltern, fanden in Polen, der Tschechoslowakei und der DDR eine Zuflucht. Die Anzahl der Flüchtlinge schwangt, je nachdem, wer die Zahl vertrat, zwischen 80.000 und 700.000. Die Sieger des Krieges, die Rechten, Monarchisten und Konservativen, maßgeblich unterstützt durch die britische Armee, die Griechenland nach dem Zweiten Weltkrieg besetzt hatte, nahmen furchtbare Rache. Sie ermordeten die Führer der linken Volksfront und schnitten ihnen die Köpfe ab. Britische Soldaten fuhren mit den abgeschnittenen Köpfen durch die Dörfer und Städte, um sie den Leuten zu zeigen. Mit diesem mittelalterlichen Ritual sollten die Anhänger der Volksfront eingeschüchtert werden. Die Kommunisten Griechenlands waren faktisch ausgerottet worden und spielten in der Politik keine Rolle mehr. Erst nach dem Ende der Militärdiktatur 1974 konnten die Exilanten in ihre Heimat zurückkehren. Herr Panaiotis jedoch blieb. Seine Kinder waren erwachsen geworden, hatten Deutsche geheiratet, und Pana, wie wir ihn auch manchmal nannten, war stolzer Opa einer Schar deutsch-griechischer Enkel geworden. Alexis Sarikakis dagegen war etwa so alt wie ich. Er arbeitete auch in unserem Betrieb in der Produktionsvorbereitung als Ingenieur, und er galt als großer Frauenheld. Er war als kleines Kind in die DDR gekommen, und er verließ sie nach dem Sturz der Obristenjunta wieder, um nach Nea Ionia, seiner Geburtsstadt, zurückzukehren.

Mein Bruder war Leser in einer Kinderbücherei, ich ging noch nicht zur Schule. Eines Tages brachte er das Buch „Die schönsten Sagen des klassischen Altertums“ von Gustav Schwab mit nach Hause. Es handelte sich um eine dreibändige, sehr reich illustrierte Ausgabe des Kinderbuchverlages Berlin. Ich durfte mir die Bilder anschauen. Die Illustrationen waren dem klassischen Kunststil der Griechen und Römer nachempfunden. Die Helden waren, bis auf Helm, Schild, Panzer und einem kurzen Röckchen, völlig nackt. Manchmal trugen sie Sandalen. Die Frauen waren in lange Röcke gehüllt, unter dem Busen gerafft, und sie trugen die langen Haare zu unglaublichen Frisuren aufgesteckt. Nur Athene, das Mannweib, trug den Helm eines Kriegers und hatte einen Speer in der Hand. Die Ungeheuer, Scylla und Charyptis, sahen tatsächlich zum Fürchten aus. Odysseus wirkte selbst als greiser Bettler noch würdevoll und edel. Mein Bruder gab mir mürrisch einen Abriß der Odyssee und der anderen wichtigen Sagen. Das genügte, um meine Fantasie anzuheizen.
„Der Odysseus war so schlau, und trotzdem ist er in den Krieg gezogen, der Idiot“, sagte mein Bruder, und er runzelte die Stirn. Er ist sechs Jahre älter als ich, und ich wußte was das Runzeln zu bedeuten hatte. Also blieb ich still und blätterte staunend weiter.
„Wer sind die Guten?“ wollte ich wissen.
„Es gibt keine Guten.“
„Aber die Guten kommen doch immer im letzten Moment“, sagte ich. „Und es muß enfach Gute geben. War Odysseus kein Guter?“.
Mein Bruder schwieg hartnäckig, und ich gab es auf, ihn zu belästigen. Ich dachte mir meinen Teil.

Zeitchen später, ich hatte zum Leidwesen meiner Eltern sehr schnell lesen gelernt, meldete mich mein Bruder in seiner Kinderbücherei an. Was danach geschah, könnt Ihr in meinem Stück „Bücherei“ nachlesen, aber hier geht es um Griechenland. Es hat nicht lange gedauert, und ich lieh mir die drei Bände von Gustav Schwab aus, schließlich wollte ich es genau wissen. Es gab tatsächlich keine Guten. Nicht in der „Ilias“, nicht in der „Odyssee“, und gleich gar nicht in den zahlreichen archaischen Göttergeschichten. Aber meine Kinderseele wollte „Gute“! Also waren für mich die Griechen die Guten, wenn sie Troja belagerten und zerstörten, sie wollten doch bloß Helena zurückhaben. Und Odysseus war der Gute, wenn er die Freier seiner Gattin Penelope metzelte. Für meine Kinderseele, ach, meine arme Kinderseele. Irgendwann sah ich im „Theater der Jungen Welt“, unserem Leipziger Kinder- und Jugendtheater, das Stück „Die Trojaner“. Das Stück hatte wenig mit den klassischen griechischen Sagen zu tun. Aber es öffnete mir die Augen. Das wäre meine Antwort auf die Frage gewesen, welches das Bildungserlebnis gewesen sei, an das ich mich am meisten erinnerte. Bis heute verfolge ich jede Fernsehsendung, in der es um Troja, Odysseus und all die anderen Geschichten aus jener längst verflossenen Zeit geht, mit großem Interesse. Die Nacherzählungen des Gustav Schwab habe ich mir in einer einfachen Ausgabe vom Altberliner Verlag (1984) gewissermaßen wiederbeschafft.

Ja, die Griechen. Sie haben ihre eigene Kirche und eine eigene Schrift. Das kyrillische Alphabet wurde aus dem griechischen entwickelt. Sie haben den mächtigen Römern die Mythologie und die Architektur vermacht, und sie sind große Seefahrer gewesen, immer schon. Sie haben die europäische Literatur und die europäische Kunst erfunden. Sie sind die Begründer der europäischen Philosophie und, vor allem, der Demokratie. Sie waren das erste Land im Reich der Osmanen, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts seine Unabhängigkeit von Konstantinopel erstritt. Sie beeinflußten die Entwicklung der romanischen, der slawischen, der germanischen und aller anderen Völker in Europa. Ihre eigene etymologische Herkunft ist nicht sicher geklärt. Die Griechen (griechisch: Éllines Έλληνες ‚Hellenen‘) sind ein indogermanisches Volk, dessen sprachliche Wurzeln sich bis ins zweite vorchristliche Jahrtausend zurückverfolgen lassen. Kurz: Sie sind die Keimzelle der gesamt-europäischen Kultur.

Sie stecken jetzt also in der Patsche. Sie haben die Wahl zwischen Pest, Cholera, Ruhr und Diphtherie. Und wie schon immer in der Geschichte der Welt sollen die „Kleinen Leute“ die Zeche bezahlen: Rentner, Arbeiter, Angestellte und Studenten, Kinder, Kranke und Behinderte. Die Verursacher der Katastrophe jedoch, unfähige Politiker, gierige Banker und kriminelle Unternehmer, haben ihr Schäfchen längst im ausländischen Trockenen. Die Erhöhung der Mehrwertsteuer und die Anhebung des Rentenalters sind ein lächerlicher und untauglicher Versuch, die riesigen Probleme des Landes zu lösen. Purer Populismus, um dem Stammtischbürger in Deutschland das Gefühl zu geben: „Selber dran Schuld die Griechen. Wir gehen ja auch erst mit siebenundsechzig in Rente!“ Wie konnte es zu dem Desaster kommen, habe ich mich gefragt. Die Antwort fand ich in den Büchern des Schriftstellers Petros Markaris. Hier mein dringender Lesetipp: Petros Markaris; Abrechnung; Diogenes 2013

Petros Markaris, Abrechnung, Diogenes 2013

Petros Markaris, Abrechnung, Diogenes 2013

„Kaum ein Autor beschreibt so direkt, unmittelbar und eindringlich die negativen Auswirkungen der europäisch-griechischen Wirtschaftspolitik auf die griechische Bevölkerung. Beginnend mit einer fiktiven Annahme das der Euro abgeschafft und der Drachme wieder eingeführt wird. Arbeitslosigkeit, Armut keine Perspektiven. Sogar die Privilegierten verlieren ihre Pfründe. Der Staat liegt am Boden, Rechtsradikale gewinnen an Einfluss.
Alte Rechnungen werden beglichen. Vierzig Jahre nach der Militärdiktatur legt einer die Rechnung für nicht eingelöste Parolen: “Brot, Bildung, Freiheit“, vor.
Ein Krimi als Spiegel der Gesellschaft, Kommissar Charitos ermittelt, trotz familiärer Schwierigkeiten, Wegfall und Kürzung seines Gehaltes. Sein geliebter Seat muss aus Geldmangel in die Garage, die politische und Polizeiführung ist teilweise orientierungslos, …“

(Darix auf www.crimi-couch.de, und hier der Link zum Buch)

Markaris hat eine ganze Trilogie über die heutigen griechischen Verhältnisse geschrieben. Die anderen beiden Bände heißen „Zahltag“ und „Faule Kredite“. Sie sind auch bei Diogenes erschienen. „Abrechnung“ ist der letzte Band der Trilogie. Sie zeichnet ein düsteres Bild des Landes und seiner Gesellschaft, aber das tut er eigentlich in all seinen Büchern. Wie jedem gute Krimi-Autor ist ihm der Kriminalfall nur Vorwand und Vehikel, gesellschaftliche Verhältnisse und menschliches Tun und Lassen sind sein Thema. Aber keine Angst, seine Werke sind nicht nur wütend, sondern auch komisch. Jederzeit als Urlaubslektüre und für den verregneten Nachmittag zu empfehlen.

Ach, übrigens, mein Vorschlag für das Unwort des Jahres 2015: Grexit.

© Bernd Mai, Leipzig, Juli 2015

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One Response to Apropos Griechenland – ein Buchtipp

  1. Renate says:

    Sehr guter Beitrag. Vielen Dank dafür.

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