Bücherei – Heute: Teil 1

Bücher, das Lesen und die Literatur haben in meinem Leben immer eine große Rolle gespielt. In einem „Erinnerungs-Essay“, das ich vor einigen Jahren geschrieben habe, schilderte ich, wie es dazu gekommen ist. Bis heute habe ich es nicht auf meiner Web-Seite veröffentlicht, weil es zu lang ist. Jetzt habe ich mich entschlossen, dieses Stück in Fortsetzungen als Blog zu veröffentlichen. Hier ist der erste Teil:

Bücherei – Teil Eins

Ich war etwa acht Jahre alt, als mein älterer Bruder mich das erste Mal in eine Kinderbücherei mitnahm, und es muß im Jahre 1955 gewesen sein.

Bis dahin kannte ich nur die Leihbücherei, in der sich meine Eltern regelmäßig mit Lesestoff versorgten. Wir wohnten in Leipzig, und sie befand sich in der Karl-Liebknecht-Straße, kurz bevor sie Richtung Innenstadt zum Peterssteinweg wird, ganz in der Nähe unserer Wohnung. Für dreißig Pfennige konnte man ein Buch eine Woche lang ausleihen, und man konnte auch Bücher kaufen. Als die privaten Ausleihen von „Schund und Schmutz“ gesäubert wurden, es war wohl Mitte der fünfziger Jahre, kamen keine Kunden mehr, und der Laden ging ein. Ich habe nie erfahren, welcher Art die Bücher waren, die sich meine Eltern ausliehen. Sie waren alle in gelbes Papier eingeschlagen, und Titel und Verfasser waren mit Kopierstift auf den Buchrücken vermerkt. Da ich zu jener Zeit noch nicht lesen konnte, sagte mir die Schrift nichts, und ich suchte nur nach Büchern mit möglichst vielen bunten Bildern. Zuerst übernahm der Volksbuchhandel den Laden. Weil sich aber fünfzig Meter weiter die renommierte „Bücherstube Gutenberg“ befand, wurde später ein Hutgeschäft daraus. Noch einiges später konnte man dort Obstwein kaufen, vorausgesetzt, es gab gerade welchen, und man hatte ein Gefäß dabei.

Meine erste Begegnung mit Büchern hatte jedoch viel früher stattgefunden. Schon als ganz kleiner Junge war ich wild auf Bilderbücher, und manchmal bekam ich von Bekannten oder Verwandten eines geschenkt. Nachdem man mir die Texte zu den Bildern mehrmals vorgelesen hatte, konnte ich sie auswendig, und ich wußte genau, welcher Text zu welchem Bild gehörte. Gern wurde ich Gästen als lesendes Vorschulkind vorgeführt. Als sich eine angeheiterte Geburtstagsgesellschaft einmal wie toll amüsierte, weil ich das Buch in der Aufregung verkehrt herum hielt, war damit Schluß.

An das Bilderbuch, mit dem mir dieses Mißgeschick passiert war, kann ich mich gut erinnern. Es erzählte in herzig bunten Bildern von einem Geschwisterpaar, das in einer Försterei mitten im tiefsten Walde lebte, aber vielleicht verbrachten sie auch nur den Sommer bei den Großeltern. Soweit ich mich erinnere, bestand der Höhepunkt der Geschichte darin, daß sich der Junge im Wald verirrte, und zu guter Letzt von den Leuten des Suchtrupps friedlich schlafend unter einem Nadelbaum gefunden wurde. Viel später, als ich durch einen Ferienaufenthalt im Thüringer Wald wußte, wie richtiger Nadelwald aussieht, konnte ich mir nicht mehr vorstellen, wie ein kleiner Junge auf all diesen Wurzeln und Farnen, Steinen und Ästen, Spinnen und Käfern, angesichts aller jener Verlustängste ruhig schlafen konnte. Sie sehen, damals verstand ich noch nichts von Literatur …

Natürlich hatten wir auch zu Hause Bücher, aber ihre Anzahl war eher bescheiden. Es handelte sich vorwiegend um populärwissenschaftliche Bücher und Fachliteratur meines Vaters und Politisches. Ich kann mich gut an einige Bände Stalin erinnern, aber die waren eines Tages verschwunden. Romane gab es auch, gewiß, „Der Frosch mit der Maske“ und Selma Lagerlöfs „Die Erben von Bjälbo“, aber vor allem Bücher, bei deren Lektüre ich später nie über die dritte Seite hinauskam. Ludwig Renns „Adel im Untergang“ war eine Ausnahme. Ich las es als Junge, und ich fand die satirischen Aspekte des Buches amüsant. Ich las es als junger Erwachsener erneut, und ich erschrak über meine kindliche Unbedarftheit. Ich kann mich nicht erinnern, daß meine Eltern je ein Buch für den eigenen Bedarf kauften. Die Leihbücherei war immer noch billiger, und sie war gleich um die Ecke. Wir Kinder bekamen jedoch öfters Bücher geschenkt, besonders zum Geburtstag und zu Weihnachten, als „Persönliches“ neben Hemden, Pullovern, Handschuhen und Strümpfen. Auf die Reihe „Robinsons billige Bücher“ vom Kinderbuchverlag Berlin muß man in diesem Zusammenhang besonders hinweisen. Jeder einfache Band – es gab auch doppelte – kostete nur zwei Mark. Als Markenzeichen trugen sie eine Vignette, die Robinson Crusoe im Korb eines Freiballons darstellte. Das sollte wohl ein Zitat des damals beliebten Scherzliedes sein: „Robinson, Robinson flog in einem Luftballon, und als er wieder unten war, da war er wieder da…“. Sie wurden auch gern als Anerkennung von Schule, Pionierorganisation oder Ferienlagerleitung vergeben. Als ich bereits ein Schüler und ein Helferkind in der Kinderbücherei war – wir werden darauf zurückkommen – passierte etwas, was mir später so oder so ähnlich noch öfter widerfahren sollte. Die Mitarbeiter der Kinderbücherei veranstalteten im Rahmen eines größeren Festes, ich weiß nicht mehr zu welcher Gelegenheit, in der Aula unserer Schule ein Literaturquiz. Es gab jene Robinson-Bücher zu gewinnen, und ich wollte unbedingt einer der Kandidaten sein. Nicht weil ich ein Buch gewinnen wollte, sondern weil ich endlich einmal eine Gelegenheit sah, mich hervorzutun. Also meldete ich mich eifrig, und ich war sehr enttäuscht, weil man mich nicht als Kandidat auswählte, genauer gesagt, ich war stinksauer. Wer allerdings beschreibt mein Entsetzen, als ich dann die Fragen hörte. Nicht eine, nicht eine einzige, hätte ich beantworten können! Sie bezogen sich auf Bücher, die ich zwar dem Namen nach kannte, die ich aber eher läppisch fand, weil ich glaubte, bereits ein viel höheres Niveau in meiner Lektüre erreicht zu haben. Meine Enttäuschung und mein Entsetzen machten der Erleichterung platz, knapp einer Riesenblamage entgangen zu sein. Am Ende der Veranstaltung ergriff die Leiterin die Gelegenheit, mich für meinen Einsatz in der Bücherei mit einer Buchprämie öffentlich auszuzeichnen – Schwein gehabt! Am Ende meiner Kindheit jedenfalls hatte ich eine stattliche Anzahl von Bänden in meinem Regal.

Dazu fällt mir noch eine andere Geschichte ein. Mein älterer Bruder bekam einmal ein Buch geschenkt, das von steinzeitlichen Mammutjägern handelte, und es machte unter seinen Freunden die Runde. Es muß auf alle einen großen Eindruck gemacht haben, denn bald spielten wir am liebsten Steinzeit. Wir fertigten aus Zweigen, Steinbrocken und Kunstlederstreifen – die Mutter zweier Freunde meines Bruders – die Hartmanns aus der Nummer 29, Hinterhaus – arbeitete in einer „Kunstlederbude“, und sie brachte die Restverschnitte mit – Steinkeulen und Steinäxte, und die Größeren schnitzten aus Leisten Speere und Dolche. Auf unserem Hof legten wir eine Feuerstelle an – die erlegten Mammute konnte man schließlich nicht roh essen und das Feuer war echt, wir verbrannten die Holzabfälle einer benachbarten Tischlerei, von der wir auch überzählige Latten und Leisten bezogen – und sie bildete den Mittelpunkt der Sippe, ganz wie es in dem Buch beschrieben war. Aber auch in unserem Spiel war der Fortschritt nicht aufzuhalten. Die Speere mutierten zu hölzernen Gewehren, und die Geschickteren entwickelten aus ihnen Modelle, mit denen man Erbsen oder Murmeln verschießen konnte. Zu jener Zeit war das politisch nicht unbedenklich, aber vielleicht gerade deshalb. Auf diese Weise kamen wir schnell aus der Steinzeit heraus, und die moderne Welt hatte uns wieder …

Forts. folgt

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One Response to Bücherei – Heute: Teil 1

  1. Renate says:

    Deine Erzählung ist klasse! Als ich das las, kam mir vieles sehr bekannt vor. Ich weiß noch, dass ich mir als Kind mehr Bücher gewünscht habe. Zuhause hatten wir nur ein Kinderlexikon und den Struwwelpeter. Das Kinderlexikon durfte ich mir nur anschauen, wenn ich krank im Bett lag (oder heimlich, wenn Muttern einkaufen war ;-))

    Zu Weihnachten 1962 bekam ich dann von meiner Oma das Buch „Ich heiße Paprika“ und von meinem Vater ein Buch mit Tiergeschichten. Ich besitze noch beide Bücher.

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