Bücherei – Heute: Teil 8, in dem nach Gründen gesucht wird

Als wir in der fünften Klasse – neben anderen neuen Fächern – das Fach Deutsch/Literatur bekamen, wurde Fräulein Irion unsere Klassenlehrerin. Sie unterrichtete uns in den Fächern Deutsch, Russisch und – später – auch Englisch. Aber Englisch war fakultativ. Es begann mit dreißig Schülern aus zwei Parallelklassen, und es endete mit fünf Schülern zum Abschluß der zehnten Klasse, und Raimund Hillert, der später auf dem zweiten Bildungsweg Mathematiker werden sollte, und ich waren unter ihnen. Es waren, neben Erdkunde und Geschichte, meine Lieblingsfächer, aber das Fräulein war nicht meine Lieblingslehrerin. Sie war keineswegs ein ältliches, verhuschtes Fräulein, ich fand sie sogar recht attraktiv, aber sie war manchmal recht zickig, und irgendwann kam mir der Gedanke, sie hätte als junges Mädchen ihr Coming-Out verpaßt. An das Fach Deutsch/Literatur in der fünften und sechsten Klasse habe ich so gut wie keine Erinnerungen. Aber dafür gibt es eine einfache Erklärung, wie es sich nach Gesprächen mit meinem Bruder herausstellte. Die Bücher, die auf dem Lehrplan standen, kannte ich alle schon, als sie behandelt werden sollten. Renns „Der Neger Nobi“ und „Trini“, „Das Eiserne Büffelchen“ von Alex Wedding und „Timur und sein Trupp“ von Gaidar, das später in Verruf kam. Dabei hat er auch „Tschuk und Gek“ geschrieben, eines der spannendsten und lustigsten Kinderbücher, das ich kenne. Mein Gott, wie muß ich mich im Unterricht gelangweilt haben! Ich sehe mich noch heute im Klassenzimmer in der Fensterreihe sitzen, das Kinn auf die Hand gestützt, und ich beobachte die Mauersegler, die um den Turm der Peterskirche flitzten, und solange die Kirchturmuhr noch funktionierte, wußte ich immer, wie viel Zeit bis zur Pause blieb. Entweder träumte ich mir Geschichten zurecht, die sich an Bücher und Filme anlehnten, die mir gefallen hatten, oder ich las unter der Bank heimlich meine eigene Lektüre. Was ich nebenbei aufschnappte, reichte immer noch für eine zwei, und durch meine stets ausgezeichneten Aufsätze erreichte ich auf dem Jahresabschlußzeugnis allemal eine eins.

Überhaupt waren Tagträume immer ein Mittel für mich, unangenehme Lagen zu meistern. Sie halfen mir, ihnen auszuweichen, und mich mit der rauhen Wirklichkeit auszusöhnen. Anregungen für die Träume entnahm ich meiner Lektüre. Der Bedarf an neuen Themen war groß, aber es gab ja so viele Bücher, es gab immer neue Abenteuer und neue Helden, und es gab immer einen neuen Kick. Während eines der ungeliebten Aufenthalte in einem Betriebsferienlager im Thüringer Wald nannte mich unser Helfer den „Philosophen“, weil ich mir die Zeit während der langweiligen Wanderungen mit Tagträumen vertrieb. Zu diesem Zweck marschierte ich stets allein am Ende oder an der Spitze der Gruppe durch die Gegend, still, mit abwesender Miene und verschlossenem Gesicht, und ich vermute, er hätte mich viel lieber den „Spinner“ genannt. Aber er war ein Kollege meines Vaters, und er war ein feiner und guterzogener Mensch. Sein Name war Herr von Knobloch.

Es bestand die Gefahr, die unreflektierten Geschichten für die Wirklichkeit selbst zu nehmen. Erst viel später, als Erwachsener, im Desaster meiner Ehe, die ich eingegangen war, weil ich glaubte, es einem angelesenen Ideal schuldig zu sein, wachte ich endlich auf. Bis heute belastet es mich, daß es mir nicht gelungen war, meine Familie zusammenzuhalten und sie mit Anstand über die Runden zu bringen. Es wäre sicher verrückt, die Schuld den Büchern meiner Kindheit in die Schuhe zu schieben, nicht wahr?

Irgendwann stand auch Erwin Strittmatters „Tinko“ auf dem Lehrplan. Ich weiß noch, daß ich es damals nicht gänzlich gelesen habe. Die Behandlung des Buches im Schulunterricht hat mich viele Jahre davon abgehalten, einem der bedeutendsten deutschen Autoren des zwanzigsten Jahrhunderts die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen. Ich hielt ihn lange Zeit für einen Dorfliteraten, der von der modernen Welt keine Ahnung hatte. Manches, was man in „Tinko“ lesen kann, war mir als Großstadtkind eher befremdlich. Es gibt, glaube ich, eine Szene, in der die Tinko-Oma für den Briefträger Eier im Kaffeewasser kocht. Ich höre noch heute das kollektive „Ähhh!!!“ meiner Mitschüler, als Fräulein Irion uns den Text vorliest, und auch ich schüttelte mich. Anläßlich eines letzten Schultages vor den Großen Ferien las uns Fräulein Irion aus „Pony Pedro“ vor. Die Mädchen fanden es toll, wegen der Pferde, aber mich bestärkte es eher in meiner Haltung.

(Forts. folgt)

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