Bücherei – Heute: Teil 9, in dem ich ehrenamtlich tätig werde

Ich war ein Großstadtkind, und meine Erfahrungen mit dem Landleben beschränkten sich auf „Stadt und Land – Hand in Hand!“ aus dem Lesebuch der ersten Klasse und einem oder zwei kaum reflektierten Besuchen bei einem Onkel, Bruder meiner Mutter, im Vorpommerschen. Außerdem wußte ich, daß auch unsere Braunschweigischen Tanten, zwei Schwestern meiner Mutter, auf dem Lande lebten, und daß das nach dem Krieg ein großes Glück für uns gewesen war. Unsere Mutter erzählte manchmal von den Hamstertouren in jener Zeit, und ich sehe noch heute die Freßpakete der Tanten mit Kakaopulver, Kaffee, Kokosfett, Schönheitsseife und Wurstkonserven – echte Braunschweiger, hausgemacht bei Schlachter Ewers – auf unserem Küchentisch liegen. Manchmal war auch ein Fläschchen Weinbrand oder eine Packung Zigarillos für meinen Vater dabei. Ich erinnere mich an meine erste Begegnung mit Pfannkuchen, die eine der Braunschweigischen per Paket geschickt hatte, da war ich drei oder vier Jahre alt. Wie müssen die geschmeckt haben! Die Braunschweiger Wurst jedoch von Schlachter Ewers war immer ganz ausgezeichnet.

Meine Erfahrungen mit der Großstadt wurden nirgendwo widergespiegelt. Vielleicht in Benno Pludras „Sheriff Teddy“, das gab es auch als Film, aber das war speziell auf das geteilte Berlin zugeschnitten, und also berührte es mich kaum. Überhaupt spielte die Handlung der meisten Bücher und Filme, in denen Großstadt vorkam, immer in Berlin, und das fand ich nicht in Ordnung. Die besondere Situation der geteilten Stadt und die literarischen und dramaturgischen Möglichkeiten, die sich daraus ergaben, erkannte ich nicht. Die späte Begegnung mit Strittmatters „Wundertäter“, dessen ersten und zweiten Band ich von meinem Bruder auslieh, war erneut ein Schlüsselerlebnis, und bis heute schätze ich den Alten aus Dollgow. Ich lernte, daß Bücher über das Leben auf dem Lande oder sonstwo auch Bücher über das Leben überhaupt sein können, jenseits aller Schubladerei, und darin besteht letztendlich das ganze Geheimnis jeglicher Literatur. Den – damals – umstrittenen dritten Band besorgte ich mir selbst, und alles andere auch.

Obwohl die Kinderbücherei am Roßplatz stark besucht war, mußte sie mit einer Belegschaft von drei bis vier Bibliothekarinnen auskommen, und eine von ihnen war die Leiterin, die in der Ausleihe aber selten in Erscheinung trat. Ich erinnere mich an Rentnerinnen, die befristet als Urlaubsvertretung arbeiteten. Das Personalproblem wurde auf recht originelle Weise gelöst: Man warb Leser zur Mitarbeit an. Sie wurden Helferkinder genannt, und sie erledigten ein Reihe von Arbeiten, für die man keine Spezialkenntnisse benötigte. Sie nahmen die zurückgegebenen Bücher entgegen, prüften den Rückgabetermin und kontrollierten den Zustand der Bücher, und sie ordneten sie wieder in das Magazin ein. Sie suchten die neu entliehenen Bücher aus dem Magazin heraus, stempelten den Rückgabetermin in das Leseheft, und gaben die Bücher an die Leser aus. Als ich elf oder zwölf Jahre alt war, hatte ich keinen größeren Wunsch, als ein Helferkind zu sein. Ich empfand es als unerhörte Auszeichnung, ständig mit Büchern umgehen zu dürfen. Eines Tages, die Einzelheiten erspare ich mir, hatte ich es geschafft, und ich bekam meinen Dienstplan.

Jedes Helferkind hatte ein bis zwei Mal für je zwei Stunden Dienst in der Woche. Auf die Einhaltung des Dienstplanes wurde streng geachtet, denn es gab jede Menge Arbeit, und wenn eines fehlte, war sie manchmal für die anderen kaum zu schaffen. Ich war immer ein sehr pünktlicher und gewissenhafter Helfer, einmal jedoch handelte ich mir einen ordentlichen Rüffel ein, weil ich zu spät kam. Schuld war mein Vater. Ich mußte ihm helfen, einen Schreibtisch mit dem Handwagen aus einem Gebrauchtwarenhaus abzuholen. Auch ein prägendes Erlebnis.

Der Andrang der Leserschaft hing von der jeweiligen Jahreszeit ab. Wir langweilten uns keineswegs, wenn weniger zu tun war, und wer denkt, daß in diesem Fall jedes Helferkind mit seinem Buch in einer Ecke saß und sich nicht muckste, der irrt. Meistens wurde geredet, über die Schule und die Lehrer, über Filme im Kino, über Eltern und Geschwister, aber selten über Bücher. Im entsprechenden Alter neckten wir uns mit den Mädchen, und manchmal spielten wir zwischen den Bücherregalen Verstecken. Bei dieser Gelegenheit habe ich das erste Mal ein Mädchen geküßt. Sie war in meinem Alter, hatte blondes Wuschelhaar, und sie war ein üppiges, kokettes kleines Luder. Ich war recht schüchtern, und die Initiative ging nicht von mir aus. Sie schnappte mich einfach und drückte ohne Vorwarnung ihre Lippen auf meinen Mund, und sie probierte gleich einen Zungenkuß. Nachdem ich mich von meinem ersten Schreck erholt hatte, probierten wir es gleich noch mal, und ich fing an, Gefallen an der Sache zu finden. Ich richtete es immer so ein, daß wir zusammen Dienst hatten, und sie hat mir zwischen den Regalen so manches beigebracht. Das ging so lange, bis ich sie ertappte, wie sie einem anderen Jungen die gleiche Gunst erwies. Sie war erst seit kurzem Helfer-„Kind“, und sie hat uns auch bald wieder verlassen.

Ein besonders vertrautes Verhältnis entwickelte sich zu einer Bibliothekarin, nennen wir sie Uschi. Sie war eine stets vergnügte junge Frau von etwa fünfundzwanzig (aber ich kann mich irren), und sie hatte dunkles lockiges Haar, einen hübschen Busen und eine lustige Himmelfahrtsnase. Ich erinnere mich an Gespräche über Liebe, Partnerschaft, Familiendinge, Sex – das war zu jener Zeit nicht selbstverständlich – , Freundschaft und eben alles, worüber ich zu Hause oder mit Freunden nicht reden konnte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich gar nicht gewußt, daß man überhaupt über all das reden kann. Einzelheiten habe ich vergessen, aber der Eindruck ist immer noch da, deutlich, als wäre es erst gestern gewesen. Mit der Zeit wurde sie für mich zu einer Bezugsperson, wie ich sie jedem heranwachsenden Menschen wünsche, und ich suchte die Bibliothek auch auf, wenn keine Ausleihzeiten waren, oder wenn ich keinen Dienst hatte. Es war eine sehr schöne Zeit, und ich war sehr glücklich.

Die Einrichtung der Helferkinder muß der Einfall eines genialen Kopfes gewesen sein. Wir Helfer wurden nicht dümmer, und wir lernten eine Reihe von Dingen, die sich später beim Umgang mit Literatur als nützlich erweisen sollten. Außerdem hatten wir immer Zugang zu den neuesten Büchern, und wir durften sie uns als erste ausleihen. Es gab keine Pluspunkte in irgendeinem Wettbewerb, und die Stunden wurden nirgendwo abgerechnet. Und wenn doch, dann wußten wir nichts davon. Das Bibliothekswesen aber sparte das Gehalt von mindestens zwei Hilfskräften. Nein, einen materiellen Vorteil hatten wir, abgesehen von meiner öffentlichen Auszeichnung – siehe oben, von unserer Arbeit nicht. Nur einmal, da griff ich zur Selbstjustiz. Ich habe es mir nicht verkneifen können, zwei ausgesonderte Bücher mitgehen zu lassen. Man nannte es Aussondern, wenn Bücher aus dem Bestand entfernt wurden, meist waren sie physisch verschlissen. Über Aussonderungen aus ideologischen Gründen ist mir zwar nichts bekannt geworden, jedoch fehlten irgendwann die Bücher westdeutscher Verlage, die in den 50er Jahren noch ohne weiteres Teil des Bestandes waren. Dabei denke ich mit Bedauern vor allem an die großartigen Geschichten um Dr. Dolittle von Hugh Lofting. Bevor ich nach Hause ging, schob ich die bewußten Bücher unter meinen Pullover, und hoffte inständig, daß ich nicht ertappt würde. Ich weiß nicht, ob Uschi es bemerkt hat, ich jedenfalls hatte wochenlang ein schlechtes Gewissen.

(Forts. Folgt)

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