Bücherei – Heute: Teil 5, in dem Schwung in die Geschichte kommt

Als ich begann Lesen zu lernen, und als sich die ersten Erfolge zeigten, versuchte ich alles zu lesen, was sich mir an Gedrucktem darbot. Ladenschilder, Plakate, Transparente – „Deutsche an einen Tisch!“ stand an vielen Mauerresten geschrieben – , Anschläge an Litfaßsäulen, Preistafeln in Läden und an Kiosken. An manchen Häuserwänden war deutlich „LSR“ zu lesen und lange Pfeile wiesen irgendwohin. Auf meine Fragen erhielt ich keine erschöpfende Auskunft, aber die Geschichten von den Bombennächten, die meine Mutter mit meinem Bruder in Chemnitz verbringen mußte, waren während meiner Kindheit allgegenwärtig. Besonders die Geschichte vom vergessenen Pflaumenkuchen, und ich wette, in fast jeder deutschen Familie gibt es eine Geschichte vom vergessenen Pflaumenkuchen. Natürlich las ich laut, und meine arme Mutter muß manchmal schrecklich genervt gewesen sein, wenn wir zusammen einkaufen gingen oder ich ihr bei irgendeiner Besorgung behilflich war. Ich zeigte schon vor meiner Einschulung reges Interesse an Gedrucktem. Ich erinnere mich, daß ich die Buchstaben eines Zeitungsartikels mit Bleistift auf ein Blatt Papier übertrug, das ich meiner Mutter zu lesen gab. Sie hat herzlich gelacht, und ich weiß bis heute nicht, was ich „geschrieben“ hatte.

Dabei hatte ich keinen guten Start ins Schülerleben. Einige Wochen vor meiner Einschulung erkrankte ich an Scharlach, und das war damals eine ernste Sache. Im Krankenhaus wurde ich mit Penizillin vollgepumpt – im wörtlichen Sinne per Injektionsspritze -, und als ich wieder zu hause war, mußte ich noch drei Wochen im Bett bleiben, und ich bekam drei weitere Wochen Erholung verordnet. Der erste September fiel in diese Zeit, und so erlebte ich meinen ersten Schultag Wochen später, und es gab auch keine Familienfeier. Ich bekam aber eine Zuckertüte, und ich kam mir ziemlich bescheuert vor, als mich meine Mutter mit dem Ding nach Schulschluß abholte. Im Haus gegenüber, in der Nummer 36, wohnte ein Mädchen namens Eva Weidhaas, das so alt war wie ich und das in die selbe Klasse eingeschult wurde. Ich kannte sie vom Sehen, aber näheren Kontakt hatten wir nicht. Unsere Mütter vereinbarten, daß Eva jeden Tag, an dem ich mich erholen und noch nicht zur Schule gehen sollte, eine halbe Stunde zu uns nach hause kam, um mir den neuesten Lernstoff zu vermitteln. So wurde sie meine erste Lehrerin, und ich übte unter ihrer Anleitung das Malen von Zuckertüten und irgendwelchen Kringeln. Auch die ersten Buchstaben und Ziffern brachte sie mir bei. Sie war recht hübsch, trug immer adrette Kleidung, und sie hatte nie zerschrammte Knie oder schmutzige Hände. Meine Mutter kochte Kakao und reichte Kekse oder anderes Gebäck, wenn wir in unserem Wohnzimmer am Eßtisch saßen und lernten, und das war unter der Woche eher ungewöhnlich. Eva war ein sehr gewissenhaftes Kind, und sie korrigierte meine ungelenken Versuche stetig und mit großem Eifer, und heute weiß ich, daß sie es genoß.

Als ich endlich richtig lesen konnte, verschlang ich zunächst den Rest des Lesebuches der ersten Klasse, und nachdem ich alle meine Bilderbücher selbst gelesen hatte, vollständig das der zweiten, das irgendwo herumlag.

Das erste Buch, das ich in der Kinderbücherei auslieh, war eine Sammlung Persischer Märchen, und es hieß „Das Papageienbuch“. Es war wunderbar farbig illustriert, und heute weiß ich, daß es eine Menge mit den „Märchen aus Tausendundeiner Nacht“ zu tun hatte. Ich kannte Europäische Märchen durch Filme und Hörspiele, aber die orientalische Exotik übte auf mich eine Wirkung aus, die faszinierend und beunruhigend zugleich war. Ich glaube, damit war ich ein und für allemal der Lesemanie verfallen. Hunderte, ja Tausende Bücher warteten darauf, von mir gelesen zu werden, was für ein Gedanke! Meinen Eltern wurde erst später und ganz allmählich klar, was sie angerichtet hatten, als sie das Anmeldeformular unterschrieben. Aber da war schon alles zu spät. Sie zeigten freilich wenig Interesse an meiner Leidenschaft, es sei denn, sie fühlten sich gerade mal wieder bei einem Elternabend wegen meiner Faulheit und Schlampigkeit öffentlich angegriffen. In diesem Falle gab es Büchereiverbot, das ich jedoch geschickt unterlief. Vielleicht war es aber nur so, daß meine Eltern keine Ausdauer bei der Überwachung des Verbots aufbrachten. Ich kann mich nicht erinnern, daß sie je versucht hätten, mich bei der Auswahl meiner Lektüre zu beraten. Allerdings war man damals bei den Bibliothekarinnen in guten Händen. Die heute allgemein übliche Freihandausleihe war in öffentlichen Bibliotheken unbekannt. Die Bibliothekarin hatte eine große Kartei vor sich auf der Theke, in der die Bücher nach Lesealter und Themen geordnet waren. Statt eines unscheinbaren Leserausweises hatte man ein sogenanntes Leseheft. Nach einem Blick auf den Umschlag des Heftes, auf dem der Geburtstag vermerkt war, wählte sie in der Kartei aus und machte dem kindlichen Leser Vorschläge. Man nahm, was man nicht kannte. Oh, diese Methode hatte ihre Vorzüge! Auf diese Weise war die Auswahl bunt und vielfältig, und man wurde nicht einseitig. War man ein häufiger Besucher wie ich, dann kannte die Bibliothekarin natürlich die vom Leser bevorzugte Art von Büchern. Eine andere Methode war es, sich eine Bücherliste anzufertigen, die man der Bibliothekarin übergab oder vorlas. Aber das war mir zu aufwendig, und ich liebte die Überraschung. Ich wechselte alle paar Monate meine Lieblingsthemen. Märchen und Sagen, der Bürgerkrieg (in Rußland, natürlich) und der Große Vaterländische Krieg, Seefahrer und Entdecker, Populärwissenschaft und Technik, die Indianer und ihr Kampf gegen das Vordringen der Europäer oder eben einfach nur Geschichten – das waren solche Phasen, wobei mir die Phase „Seefahrer und Entdecker“ besonders gut in Erinnerung geblieben ist. Die Herren Cook und Krusenstern, Miklucho-Maklai und Magellan und andere, deren Namen ich vergessen habe, waren in dieser Zeit meine Helden. Das Problem bestand darin, daß sich außer mir niemand sonst für diese Burschen interessierte.

(Forts. folgt)

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